2.09 Ménage à trois

 

Ich öffne die Tür und starre in Roberts Augen.

»Was willst du hier?« raune ich ihm zu. Es klingt vermutlich unfreundlicher, als es beabsichtigt ist, doch ich muss gegen eine Menge Techno und Trance ankämpfen.

Er schweigt, schluckt schwer und über seiner Stirn rinnt ein großer Schweißtropfen, als sei er die Treppen zu meiner Wohnung hochgerannt.

Plötzlich taucht ein Arm auf und stößt ihn grob beiseite. Eine Gestalt tritt in die Tür und zielt schweigend mit einer Pistole in mein Gesicht.

»Ist er das?« fragt eine raue Stimme, deren Besitzer ich nicht sehen kann.

Robert zittert am ganzen Körper, doch ein Teil dieses Schüttelns lässt sich als ein Nicken deuten.

Ein zweiter Mann mit einer Pistole taucht aus dem Schatten auf und hält das kalte Eisen in Roberts Nacken. Sie tragen Millimeterhaarschnitte und schwarze Rollkragenpullover unter modischen Lederjacke. Ihre Gesichter sind eckig und erinnern mich irgendwie an Steinbrüche.

Nun kommt der Mann, der die Frage stellte, zum Vorschein, drängt sich langsam an seinen beiden Leibwächtern vorbei und bleibt dicht vor mir stehen.

Sein Schädel ist kahl und auf seiner Nase sitzt eine drahtige Nickelbrille.

»Wieder einer«, konstatiert er mit einer krächzenden Stimme. »Es ist eine Plage.«

Sanft und doch bestimmt drückt er mich rückwärts in die Wohnung. Hinter mir donnert noch immer Technomusik, während Evelyn ahnungslos im Wohnzimmer tanzt.

Genau dorthin begibt sich die ganze Prozession. Evelyn erstarrt in ihrer Bewegung. Ihre Beine und Arme verfolgen noch einen winzigen Augenblick die angestrebten Bahnen, dann steht sie vollständig still.

»Was soll das hier...?« braust sie auf, während ihr Gesicht kreideweiß wird.

»Ich habe keine Ahnung«, erwidere ich erstickt, während ich mir nicht sicher bin, in wieweit das stimmt.

Die drei Gangster schubsen uns abwechseln durch den Raum, bis wir alle drei in einer Ecke stehen. Einer macht sich eine Weile an der Stereoanlage zu schaffen, bis er schließlich die Pause-Taste findet.

»Mein Name ist Stahl. Oberst Erich Stahl. Das hier sind Sergej und Juri. Aber Namen spielen hier keine Rolle. Der einzige, der hier eine Rolle spielt...« Er blickt plötzlich zu mir und deutet mit seinem knöchrigen Finger auf mich. »...bist du, mein Junge.«

Er zieht schweigend eine kleine Schatulle aus seiner Westentasche. Es ist ein Brillenetui.

Langsam nimmt er seine Gandhi-Brille ab und reicht sie an Juri weiter, ohne ihn dabei anzusehen,

Dann öffnet er das Etui. Die Sonnenbrille darin sieht äußerst seltsam aus. Der Rahmen ist aus Metall und einige dünne Drähte laufen entlang der Innenseite des Bügels.

Oberst Stahl drückt einen Schalter auf der Innenseite. Die Brille gibt ein Geräusch von sich, das mich an einen Fotoblitz erinnert, der sich auflädt.

Dann setzt er die Augengläser auf. Er beginnt mich zu mustern. Sein blasser Mund ist dabei halb offen und seine Körperhaltung verrät Konzentration. Mit seiner Hand dreht er langsam an einem winzigen Rädchen an der Seite des linken Brillenbügels, während er mich durchdringend anstarrt. Er tritt näher, wandert mit seinem Gesicht entlang meines Arms, meines Gesichts, er öffnet mein Hemd, betastet meine Brust, während seine Schlägertypen wie Statuen stehen und mit ihren Schusswaffen auf Evelyn und Robert zielen.

»Kein Rot und kein Blau«, sagt Oberst Stahl, ohne von meinem Hals und Kopf aufzublicken. Etwas in seiner Stimme klingt erleichtert.

Schließlich richtet er sich auf und tritt wieder einen Schritt zurück. Er nimmt die rätselhafte Sonnenbrille ab und packt sie vorsichtig wieder in das Etui.

»Sanftes, beinahe unsichtbares Grün«, erklärt er, während er seine eigene Brille wieder aus Juris Hand nimmt und sie aufsetzt. »Definitiv Thanatol-Rezeptoren. Aber...«

Er runzelt seine Stirn und verzieht seinen Mundwinkel zu einem ungeübten Lächeln.

»...er weiß es nicht.«

Plötzlich klingelt es wieder an der Tür.

Ein seltsames Gefühl durchströmt mich. Es ist beinahe etwas wie Hoffnung. Wer immer es ist, vielleicht ist es eine Chance hier heil rauszukommen.

»Du erwartest jemanden, Junge?« fragt mich Oberst Stahl.

Ich schüttle schweigend den Kopf.

»Dann mache auf. Und treibe keinen Blödsinn! Nur in einem einzigen Augenblick können sich deine Freunde in deine Leichen verwandeln.«

Beeindruckt von dieser starken Argumentation begebe ich mich zur Wohnungstür.

Als ich öffne, steht eine Blondine von vielleicht dreißig Jahren, sportlich mit einer blauen Uniformjacke der Stadtwerke bekleidet in der Tür. Auf dem Kopf trägt sie eine Schirmmütze, unter ihre langen Haare zusammengerollt sind. Ich blicke zuerst in die blauen, fast etwas zu blassen Augen, die an eine große Katze erinnern, und anschließend auf die zahlreichen Sommersprossen in ihrem Gesicht.

»ThermAktiv«, sagt sie nur, als wäre damit alles erklärt. Ich starre sie verwirrt an.

»Jährliche Ablesung. Kann ich Ihren Stromzähler sehen?« Sie kritzelt dabei etwas auf das Clipboard in ihrer Hand.

Ich huste erst mal und kratze mich im Nacken. »Kann man das nicht inzwischen ohne Hausbesuche feststellen?«

Das Schreiben von ThermAktiv fällt mir ein. Es liegt noch irgendwo auf dem verdreckten Konferenztisch. Ich hatte es ein paarmal als Unterlage zum Jointdrehen benutzt.

»Dann wäre ich ja arbeitslos«, kontert sie pointiert mit einem etwas lustlosen Lächeln und klemmt das Clipboard unter ihren Arm, bereit Dr. Mårtenssons Wohnung zu betreten.

»Warten Sie hier.« Ich knalle der Frau die Tür vor der Nase zu und kehre ins Wohnzimmer zurück.

»Die ThermAktiv«, erkläre ich Oberst Stahl. »Die will nur schnell die Zähler ablesen.«

»Nun, schicke sie weg!« ordnet Stahl an. »Wir haben keine Zeit für so was.«

Zum ersten spricht einer der Schläger. Es ist Juri. Er hat einen starken russischen Akzent und wirkt wie eine Gestalt in einem Hollywood-Film.

»Heizungs...«, sagt er langsam. »...ableser«.

Stahl sieht ihn kurz an.

»Wirrr sollten sie ansehen...«

Oberst Stahl nickt und gibt stumm Anweisungen. Sergej und Juri lotsen Evelyn und Robert zum Sofa und drücken sie in die weichen Polster. Oberst Stahl nimmt neben Robert Platz, während Sergej sich neben Evelyn setzt und ungezwungen seine Beine übereinander schlägt. Juri lässt sich lässig in einen der Sessel fallen. Ihre Pistolen verschwinden zwischen den Matratzen.

Ich laufe zurück zur Wohnungstür, um die Katzenäugige hineinzulassen.

Die ThermAktiv-Frau spaziert in die Küche. Die Architektur kennt sie aus den anderen Wohnungen über mir, oder unter mir und so muss ich ihr nicht zeigen, wo es langgeht.

Ich blicke noch ein Mal durch die offene Wohnungstür hinaus, auf das Treppengeländer vor mir. Ich könnte jetzt losrennen und würde es sicherlich schaffen. Doch ich kann nicht. Ich kann nicht davon laufen, während Evelyn da drin ist, mit diesen Leuten.

Sanftes Grün. Was hat es nur zu bedeuten?

Die fünf Leute, die um den niedrigen Glastisch sitzen, muten in meinen Augen höchst verdächtig an. Sie wirken wie Amateurdarsteller auf einer Theaterbühne, unterbrochen mitten im Satz. Die Heizungsableserin muss sich denken, dass wir eine Schraube locker haben.

Juri plappert etwas von einem Sportwagen und Oberst Stahl wirft ein unkonzentriertes »Ja, ja. Richtig. Ja«, dazwischen, während er versucht einen Blick auf die ThermAktiv-Mitarbeiterin zu werfen

Die Blondine kehrt aus der Küche zurück, läuft wortlos an mir vorbei und verschwindet im hoffnungslos unordentlichen Schlafzimmer. Ich blicke zurück zu Robert. Er sitzt da und starrt ausdruckslos vor sich hin. Dann zieht er ein großes Taschentuch mit seinen Initialen hervor und trocknet sich damit die Stirn. Der Fatzke muss immer übertreiben, denke ich mir, während mein Blick zurück zu Evelyn schwenkt.

Es klingt wie ein Stöhnen, oder das Keuchen eines Menschen, der aus dem Wasser auftaucht. Ich starre sie an und versuche zu verstehen, weshalb sie keucht und nach Luft ringt. Sie greift sich an ihren Kopf, als würden sich Nadeln in ihr Gehirn bohren. Der Schmerz verdreht ihren Körper, wie ein Paragrafenzeichen. Während sie sich auf dem Sofa windet, starrt sie der danebensitzende Robert mit dem Blick eines Horrorfilm-Statisten an. In drei, höchstens vier Sekunden ist es vorbei.

Ich hatte dieses Verhalten schon einmal gesehen.

Sergej ist inzwischen aufgesprungen und zielt mit seiner Pistole auf sie.

»Eine Verwandlung!« zischt er.

»Wir haben hier ein Benefizium. Kode Rot!« höre ich die Stimme der Heizungsableserin.

Ich blicke mich um. Sie steht hinter uns und spricht in ihre Armbanduhr.

Draußen tritt jemand unsere Haustür auf.

»Sie können mit dem Theater aufhören, Stahl!« sagt die Heizungsableserin. »Sagt hallo zu Dino und Frankie.«

Zwei Kerle betreten wortlos die Bühne. Sie sind augenscheinlich von der gleichen Garnitur, wie die beiden Exemplare, die mich am Vorabend in die Mangel genommen haben. Sie tragen schwarze Lederjacken und blicken beide in die Runde, als hätte ihre Gesichter noch niemals ein Lächeln gestreift. In den Händen halten sie Pistolen mit diesen typischen phallischen Verlängerungen zur Schalldämpfung.

Der eine tritt an Robert vorbei und nimmt mit ausdrucksloser Miene Evelyn ins Visier

Plötzlich glänzt da etwas an Dinos Hals. Er steht der Wohnzimmertür am nächsten. Sein Gesichtsausdruck verändert sich unmerklich von »das ist alles so langweilig hier« zu »hm, das ist interessant«. Langsam und bedächtig betritt Tina das Zimmer.

Sie hält die Klinge des Kurzschwerts an den Hals des Mannes, dessen Hand mit der Pistole sich nun senkt. Die lange Katana wiegt sie in der anderen Hand, halb gesenkt, doch von ihrem Körper weggestreckt.

»Hallo Patrice«, sagt die blonde Katze zu Tina. »Du bist also in Hamburg. Hätte ich das gewusst, wäre ich viel früher vorbeigekommen. «

»Hallo, Laura, entgegnet Tina und verstärkt den Druck auf Dinos Hals.

Ein kleiner Bluttropfen rinnt entlang seiner Schlagader. »Bleib nur stehen, wo du bist! Oder dein Sidekick wird für seinen Kopf eine Nähmaschine brauchen.«

»Und welches der unausrottbaren Biester bist du, Schätzchen?« wendet sich die Katze wieder an Evelyn. Sie ist mindestens einen Kopf größer. »Muss ich dich kennen?«

Evelyns Augen sind zusammengekniffen. Wie eine Schlange gleitet sie über die Rückenlehne des Sofas und steht plötzlich auf den Beinen.

»Komm her und küss mich, dann findest du es raus«, erwidert sie mit rauher .

Ihr Blick erinnert mich plötzlich an Cynthia Rothrock.

Laura bricht in Gelächter aus.

»Talitha! Ich bedauere bis heute, dass ich letzten Herbst nicht in München war. Ich hätte alles dafür gegeben, um zu sehen, wie ein OKO-Söldner all diese feinen Worte in deine Haut ritzt.«

Willkommen in meiner Welt. Wieder einmal stehe ich dümmlich daneben, ohne die geringste Ahnung, was eigentlich abläuft.

»Erkläre mir: was soll dieser neue Körper?« Laura deutet spöttisch auf Evelyn. »Das ist doch noch ein halber Teenager...«

»Den du offensichtlich auf dem Gewissen hast«, erwiderte Talitha. »Du hattest kaum vor, heute Gefangene zu machen...«

Laura schnaubt abfällig. »Sag das diesem Kerl hier, dessen Freundin ihr mit eurem Hokus Pokus gerade umgelegt habt.« Sie zeigt auf mich und grinst plötzlich schelmisch, als hätte sie etwas verstanden, das ihr zuvor entgangen war. »Du bist gerade erst gesprungen. Kein Thanatol im Blut. Hundertprozentig sterblich. Für mindestens eine Stunde. Und das alles nur für mich? Es ist mein absoluter Glückstag. Ich glaube, ich werde deinen jetzigen Schädel als Andenken behalten und es mir ab und zu damit selbst besorgen.«

»Ich bitte höflich um Vergebung, meine Damen«, äußert sich Oberst Stahl und trat an Laura heran. »Doch könntet ihr alle mal das Maul halten, damit wir diesen Verhau aufklären können?«

»Was für ein Verhau, Oberst?« wundert sich Laura und grinst ihn spöttisch an.

Stahl nimmt seine Brille ab und putzt sie mit einem Taschentuch. »Sie sind dabei, sich mächtigen Ärger einzuhandeln, Fräulein Cortez.«

»Ich kann mich nicht erinnern, die Oberhand verloren zu haben.«

Stahl setzt seine Brille wieder auf und tritt in die Mitte unserer kleinen Bühne. Er sieht sich um und hebt die Augenbrauen.

»Sergej! Juri!«

Seine Gangster positionieren sich um. Sie zielen nicht mehr auf Talitha aka Evelyn und Patrice aka Tina, sondern auf Laura und Franky.

»Für mich sah das höchstens wie ein Patt aus, finden Sie nicht?« erklärt der seltsame Oberst.

»Was wollen Sie, Stahl?!« Lauras Stimme klingt gereizt.

»Das Paket abholen, Fräulein Cortez. Den Rest eliminieren. Wie gewohnt. Sie können froh sein, davon ausgenommen zu sein.«

»Vergessen Sie es! Das Paket gehört mir. Woher wissen Sie überhaupt, dass er hier ist? Haben Sie bei uns in München rumgeschnüffelt?«

Oberst Stahl lacht auf.

»In Ihrem erbärmlichen Hauptquartier? Nein, das Paket hat uns selbst hierher geführt. Denn er hat gestern in einem dieser Computercafés mit einigen unbequemen Wortkombinationen herumhantiert. Sie wissen ja, wo immer jemand im Internet Worte wie ›Lichtmann‹, ›Oktagon‹ und ›Tod‹ eingibt, sind wir sofort auf dem Plan. Der Rest war einfach. Nun haben wir wieder ein stattliches Exemplar im Netz.«

»Verschonen Sie mich mit diesem ganzen Holophrenie-Blödsinn, entgegnet Laura verstimmt. »Ich bin etwas zu lange beim Kerygma, um auf Ihre PR-Gags hereinzufallen.«

»Der junge Mann ist krank«, erläutert Stahl und deutet auf mich. »Darum wollen wir ihn aus dem Verkehr ziehen und mitnehmen. Und gebührend untersuchen. Das versteht sich von selbst...«

»Ich kann das nicht zulassen...«, erwidert Laura. Ihr anfänglicher Sarkasmus ist inzwischen vollständig von ihr gewichen und das Gesicht zu einer kalten Maske erstarrt.

»Wie bitte?« Stahl hob eine Augenbraue.

»Meine Direktive lautet gänzlich anders.«

»Welche Priorität kann das schon haben?« ruft Oberst Stahl verärgert. »Soviel ich weiß, hat dieses Individuum lediglich etwas zu viel von eurer unterirdischen Anlage gesehen. Ansonsten ist er wertlos. Ich versichere Ihnen, dass er davon niemandem erzählen wird...«

»Ich wüsste nicht, seit wann ich dem Oktagon Rechenschaft schuldig bin, Stahl. Außerdem waren wir schon vor Tagen an ihm dran. Sie kommen zu spät...«

»Seien Sie nicht kindisch«, versucht es Stahl noch einmal auf die nette Tour. »Das Kerygma will doch keinen Interessenskonflikt mit dem Oktagon. Nur wegen...« Er wedelt kurz mit der Hand in der Luft, auf der Suche nach einem treffenden Wort. »...dieses unwichtigen Kerls.«

»Ich habe meine Anweisungen«, gibt Laura schroff zurück. «Der Junge kommt nach München und zwar lebend. Doch hier ist mein Vorschlag. Sie können Patrice und Talitha haben. Glauben Sie mir, eine größere Trophäe werden Sie zu Ihren Lebzeiten nicht mehr nach Hause bringen. Und ich behalte das Paket.«

»Sie kennen unsere Bestimmungen. Ein kontaminiertes Subjekt...«

»Sie und Ihre blödsinnige Pandämonie!« schreit Laura Cortez. »Sie glauben doch selbst nicht, dass sie überhaupt existiert, Sie Heuchler...!«

»Fräulein Cortez. Verlieren Sie bitte nicht Ihre Contenance. Gehen Sie zurück. Erklären Sie Rufus Mahr, dass ich es war, der Sie gehindert hat, den Jungen mitzunehmen. Rufus soll mit uns Rücksprache halten. Dann wird sich alles aufklären...«

»Quatschen Sie mich nicht voll, Sie Spinner!« zischt Laura.

»Halten Sie Rücksprache mit Ihrem Vorgesetzten! Jetzt!« Die Stimme des Oberst zittert vor Zorn. Seine Ressourcen auf dem Gebiet der Geduld sind eindeutig erschöpft.

»Hört mal, das hat doch alles mit mir nichts mehr zu tun...«, meldet sich überraschend jemand zu Wort.

Es ist Robert. Er steht unsicher vom Sofa auf und macht tatsächlich Anstalten, die Tür anzusteuern. Es ist zu grotesk.

»Halt´ die Schnauze, Perversling«, raunzt ihn Laura Cortez an. »Hier geht niemand raus, solange ich es nicht sage.«

Robert bleibt mir erhobenen Händen stehen, verunsichert darüber, ob er sich nun wieder hinsetzen soll.

Und dann höre ich dieses leise, vertraute Geräusch, das ein CD-Player macht, wenn er die Scheibe zum rotieren bringt und Daten in seinen Puffer einliest. Für eine Sekunde.

›Oh, nein‹, schießt mir durch den Kopf. ›Der defekte CD-Player.‹

Die Musik kommt brachial und laut. Sie kommt plötzlich und für alle bis auf mich unerwartet. Es ist die einzige Sekunde in diesem Spiel, in der ich mehr weiß, als die anderen. Und diese Sekunde ist schnell vorüber.

Robert erschreckt sich und gibt ein unverständliches Geräusch von sich, das wie »Eya-ja« klingt.

Der Schuss ist wegen des Schalldämpfers und den Technobeats nicht besonders gut zu hören. Frankie, Lauras Söldner, der zuvor Evelyn, sprich Talitha, in Schach gehalten hat, drückt noch einige Male ab und beobachtet ausdruckslos Roberts stürzenden Körper. Im Augenwinkel sehe ich, wie Patrice einen Schritt nach vorne macht, weg von Dino, dem zweiten Killer, ohne ihn dabei anzusehen. Im selben Augenblick schießt eine unwirklich anmutende Blutfontäne aus seinem Hals und spritzt ihre Unterschrift über die Ledersitze des Sofas. Auf der schwarzen Sitzgarnitur erinnert das Blut an Gelee.

Frankie schwenkt bereits um neunzig Grad, um Patrice mit seiner Pistole ins Visier zu nehmen. Doch der Söldner ist nicht schnell genug, um sie zu erreichen. Elegant schwebt sie über das Sofa, auf dem Roberts Leiche ausdruckslos sitzt und vor sich hinstarrt, als würde sie Werbefernsehen gucken.

Regungslos beobachte ich, wie Laura mit der Geschwindigkeit einer Klapperschlange eine Pistole zieht, die sich offenbar an ihrem Rücken befand und Oberst Stahl in die Brust schießt, um sich beinahe im selben Augenblick Evelyn, ich meine Talitha, zu widmen, die bereits in Lauras Richtung gestürzt kommt. Die Katze ist nicht schnell genug. Talitha tritt nach ihrer Hand und befördert die Pistolen in einem hohen Bogen durch das Wohnzimmer. Die Waffe knallt dicht neben mir gegen die Wand. Ein neuer Schuss löst sich.

Juri stöhnt auf und drückt seine Hand gegen den Bauch.

»Svolotschi! Sobaka!« ächzt er und feuert auf Frankie.

Der Oberst fällt inzwischen rücklings auf das Sofa, um dort breitbeinig neben dem toten Robert sitzen zu bleiben. Mit ausglühenden Augen starrt er den wachsenden Blutfleck auf seinem Hemd. Eine glückliche kleine Familie am Samstagabend.

Vorbei an Juri stürzt sich Sergej in die Richtung von Oberst Stahl. Juri leert im selben Augenblick sein halbes Magazin in Frankies Brust. In der Mitte der Wohnung trifft er auf Patrice, die kaum den Boden zu berühren scheint.

Für einen winzigen Augenblick sieht Sergej den von seinem Körper getrennten Arm durch den Raum rotieren, um einen Herzschlag später in Patrices Gesicht zu starren. Nur eine Handbreit entfernt. Das ultimative Sergio-Leone-Close-Up. Mit unveränderter Eleganz stößt Patrice das Schwert in Sergejs Brustkorb, zieht es wieder heraus und lässt ihn lautlos zu Boden stürzen.

Laura übertrifft alles, was ich bisher in meinem verplemperten Leben erlebt habe. Sie und Talitha tauschen eine Serie von Schlägen und Blöcken aus. Nur wenige Sekunden später ist in meinem Wohnzimmer kein Möbelstück mehr heil.

Patrice rennt an Juri vorbei, der inzwischen auf dem Boden kniet, seine Hand gegen den Bauch presst, während dunkles Blut zwischen seinen Fingern rinnt. Sie verschwindet in der Küche. Ich höre sie dort herumkramen und Sachen durch die Gegend werfen. Wieso verstehe ich bei solchen Begegnungen immer am wenigsten? Ich sehe, wie Juri orientierungslos nach einer Pistole tastet. Ich sehe sie auf dem Teppich und greife schließlich nach ihr.

Er blickt zu mir hoch und sagt mit seinem charakteristischen russischen Akzent: »Wirrr wollen dich nurrr gesund machen, Junge. Du brrrauchst Medikamente, nicht Pistole.«

Plötzlich gelingt es Talitha den Arm von Laura zu greifen und ihn seltsam zu verdrehen, doch die Katze springt hoch, stößt sich mit den Füßen an der Kommode ab und beschreibt dadurch einen Salto rückwärts. Befreit aus dem Griff, tritt sie Talitha geradlinig in den Bauch. Diese fliegt rückwärts und gleitet mindestens vier Meter auf dem Parkett. Sie bleibt nur einen Schritt von meinen Füßen entfernt liegen. Sofort drückt sie sich vom Boden ab und springt wie von einer Stahlfeder angetrieben wieder hoch.

»Ich muss langsam gehen, ihr Süßen«, ruft Laura und pustet die Luft aus ihren Lungen. Sie blickt auf ihre Armbanduhr und beginnt wie eine Kurzstreckenläuferin durch das Wohnzimmer zu rennen, hinaus zum Balkon. Im Laufen greift sie an ihren Gürtel, rollt ein dünnes Drahtseil aus, an dessen Ende ein Karabiner hängt, klickt ihn an eine der Stangen des Geländers und eine Sekunde später ist sie verschwunden.

»Es ist nicht in der Küche«, höre ich Patrice rufen.

Ich blicke schnell zu Talitha. Sie sieht mich an und scheint wieder einmal mehr zu verstehen als ich.

»Raus, raus, raus!!!«

Ich sehe wie Patrice ihre Schwertspitze Oberst Stahl an den Hals hält. Er atmet schwer und starrt sie wortlos an.

»Warum war sie hier, Stahl?« sagt sie mit einer Stimme wie Eis. »Was wollte sie...?«

Stahl gibt nur ein Röcheln von sich. In seinen Mundwinkeln bilden sich Blutbläschen.

Talitha, the artist formerly known as Evelyn, schubst mich grob durch die Küche in Richtung Wohnungstür.

»Schneller, Mann«, bellt sie. »Schnell! Wir sollten längst raus sein.«

An der Wohnungstür holt uns Patrice ein.

»Jetzt reichts!« Ich reiße mich los und stoße Talitha von mir. »WAS — GEHT — HIER — AB?!«

Im nächsten Augenblick durchdringt mich das trockenste und zugleich lauteste Geräusch, das ich je zuvor gehört habe. Alles scheint in Bewegung zu sein. Mauerteile und Möbeltrümmer fliegen um mich herum. Alles ereignet sich gleichzeitig. Meine Kindheit, mein Leben, die letzten zwei Tage, die Gegenwart. Ich werde fortgerissen und lande in einer Wolke aus Kalk und Staub auf dem Boden.

Dann ist es plötzlich still.

Zählerableser. Ich fand die immer seltsam.

Benommen öffne ich meine Augen. Ich liege auf dem Bauch und sehe meinen linken Arm, der in Blut getaucht ist. Die Wolke aus Staub setzt sich langsam. Ich kann mich nicht bewegen, und mein Gehirn fühlt sich wie Marmelade an. Meine Gedanken laufen in Zeitlupe ab und obwohl sich unter mir unbequeme Steintrümmer befinden, habe ich das Gefühl auf einem Wasserbett zu liegen. Ich bin ein verendender Körper, der nun genug hat.

Doch WAS war denn gerade passiert?

Ich höre plötzlich Stimmen. Sie klingen weit entfernt, und das ist seltsam, denn ich merke, dass die Personen, die zu diesen Stimmen gehören ganz nahe sind. Eine von ihnen befühlt sogar meinen Hals. Dann kehrt sie wieder zu der anderen zurück. Beide Frauen hocken nebeneinander auf dem Boden, gegen die Wand gelehnt, wie alte Freundinnen.

»Was machst du hier?« fragt Patrice mit einer trockenen Stimme. Der Kalkstaub in ihren Haaren lässt die beiden Frauen wie Hexen erscheinen.

»Sie haben mich vor zwei Wochen in Amsterdam erwischt.« Talitha hustet trocken den Staub aus ihren Lungen. »Ich habe Apythia gesagt, sie soll mich dorthin zurücksenden, wo einer von uns in Not ist.«

»Das ergibt keinen Sinn. Außer ihm war niemand in Not...«

Patrice deutet auf mich.

Talitha zuckt mit den Schultern.

»Ein neuer Avatar soll mir recht sein. Die blöden Narben aus München sind nicht mehr weggegangen. Was wollten die nur von dem Kerl?«

Patrice röchelt etwas unfein und steht mühsam auf.

»Die wollten ihn schon gestern mit irgendwas vollpumpen«, sagt sie.

»Wie nahe standen sie sich?« fragt Talitha. Irgendwas tief im Hintergrund meines ramponierten Gehirns lässt mich vermuten, dass sie gerade über Evelyn und mich sprechen.

»Man konnte die immer im ganzen Stockwerk hören. So wild, wie die es getrieben haben, können sie sich nicht sehr nahe gestanden haben«, sagt Patrice, die Schwertmeisterin.

»Ich habe paar recht unanständige Echos gehabt, als ich sie betrat...« Talitha hält sich einen Strang von Evelyns Zottelhaaren vors Gesicht. »Und was soll ich damit nun machen?«

Draußen heulen inzwischen die Sirenen der Polizei, der Feuerwehr und der Ambulanz in einem kakophonischen Orchester.

»Soll sich Adam um dieses Chaos kümmern«, raunzt Talitha und kämpft sich ebenfalls auf die Beine. »Irgendwelche Beweise hier?«

»In den Trümmern müsste irgendwo der Game Boy und eine Ampulle Thanatol sein. Aber ich glaube nicht, dass davon noch viel übrig ist.«

»Ich hole meine Sachen und dann hauen wir schleunigst ab.«

»Wohin?«

»Wir müssen über das Dach...«

»Was sonst...«

Im Augenwinkel sehe ich etwas später Patrice an mir vorbeigehen, mit einer großen Eishockey-Tasche auf der Schulter.

Und dann sind sie weg. Meine infantile Phantasie ist verflogen. Während sich draußen die klangliche Mischung aus Polizei-, Feuerwehr- und Krankenwagen-Sirenen langsam beruhigt, verliere ich das letzte Stück Bewusstsein und versinke in jenem Nebel, der alle umgibt, die zu müde und zu zerschunden sind, um weiterzumachen. Die Welt löst sich auf.