2.05 Riten

 

Der Abend in Danglars verläuft wie ein seltsamer zugespitzter Traum. Die Party trägt den psychedelisch anmutenden Namen »Xetal Re-Drum« und ein Außerirdischer könnte sie leicht mit einem meiner Albträume verwechseln. Doch die Anwesenden empfinden sie keineswegs als Hölle. Für sie ist die Party ein dunkles Paradies. Alles riecht hier nach Leder, Latex, Haarspray und jedem nur erdenklichen Parfum. Der Geruch von Patschuli liefert sich seine Schlachten mit Bergamotte, Jasmin und Moschus. Kenzo gegen Calvin Klein. John Galliano gegen Christian Dior. Paco Rabanne gegen Hugo Boss. Und dazwischen die Duftschwaden aus Pheromon, Schweiß und Zigarettenrauch. Die chemische Formel für den Exzess.

Der DJ steht oberhalb der Menge auf einer Plattform. Er trägt eine Ledermaske mit einem Reißverschluss über den Mund. Unentwegt steckt er durch diesen Schlitz die Zunge raus und verhöhnt das Publikum. Aus den Lautsprechern dröhnt raubeiniger House, kalter Techno und trotziger EBM. Die Musik ist etwas gestrig. Doch das liegt daran, dass der Altersdurchschnitt bei den SM-Freaks deutlich höher ist als auf der Love Parade.

An diesem Abend sehe ich den tieferen, tribalen Sinn einer Kleiderordnung. Ich bin umgeben von Hunderten Menschen in Kostümen aus Leder oder Latex. Indiskrete Kleidung deren Aufgabe darin besteht, die darunterliegenden Tätowierungen und Piercings zu offenbaren. Die ätherisch bläulichen aus Niob, die protzig schimmernden aus Gold, die massiv kalten aus Edelstahl. Für einen Abend kann sich hier jeder fühlen wie Shane Munce, wie Midori, wie Dita Von Teese.

Ich sehe mich um, während ich in meiner fabrikneuen Montur mit der Umgebung verschmelze. Mimikry aus Kunststoff. Polymererotik. Polierter Stahl. Je auffälliger man hier gekleidet ist, desto mehr vereint man sich mit der Masse.

Meine Uniform wird dominiert durch eine sagenhaft teure schwarze Lederjacke von Prada, im Husarenschnitt. Ein knappes Kleidungsteil, das die nackte Brust darunter freilegt. Freddie Mercury hätte sie geliebt. Meine Füße drücken ziemlich dank der neuen Dockers. Die neue schwarze Lederhose von Diesel kneift im Schritt. Etwas sagt mir, dass heute Abend meine Kleidung deutlich mehr wert ist, als mein Leben. Für kurze Zeit bin ich nun ein Teil dieser Kommunität. Niemand hinterfragt das.

Verglichen mit den meisten anderen hier, ist mein Kostüm dezent. Denn heute ist geschlossene Gesellschaft. Heute abend kleben sich die Frauen keine Pflaster in Form eines X über ihren Brustwarzen. Dafür gibt mir meine Kleidung einen reizvoll schwulen Anstrich. Immer wieder passieren mich Männer, die bemüht sind meinen Blick zu kreuzen und zu fixieren. Einige sehen aus wie eine Mischung aus Gefängniswärtern und SA-Schlägern. Ich muss dabei an Roman denken und frage mich, was er jetzt wohl sagen würde. Sicherlich wäre er stolz auf mich. Ich wünsche, er wäre nun hier.

Der DJ legt »Being Boiled« von The Human League auf und die steife Masse aus schwarzen Schaufensterpuppen auf der Tanzfläche beginnt langsam zu kochen. Ich halte mich an meinem White Russian fest und lasse meinen Blick neugierig durch den Saal schweifen. Ein großer Teil der Männer trägt gepiercte Nippel. Bei manchen hängen beachtliche Gewichte dran. Es gibt hier Frauen, die Klemmen an den Brustwarzen und an der Labia tragen, verbunden durch eine Silberkette. Die Menschen verändern sich schnell, wenn man draußen an die Tür ein Schild mit der Aufschrift »geschlossene Gesellschaft« hängt und einen bulligen Türsteher am Eingang platziert.

Abseits der Tanzfläche gibt es kleinere Nebenräume, in denen bei schummrigem Licht die Party ans Eingemachte geht. In einer dieser Seitenkammern entdecke ich Evelyn. Sie steht allein, mit ihrem Drink in der Hand, und beobachtet das Geschehen. Ihren Dresscode erfüllt sie mit sehr reizvollen schwarzen Hotpants aus Leder und schwarzen Hosenträgern, die über Kreuz laufen und mit Metallringen versehen sind. Darunter trägt sie lediglich ein durchsichtiges Netzshirt, das ihre winzigen, rötlichen Brustwarzen durchschimmern lässt. Ihre Füße stecken in extrovertierten Doc Martens. Sie wirkt wie eine Mischung aus Martin Gores kleiner Schwester und Louise LeCavalier. Sie sieht wie immer anders aus als die anderen.

Ich stelle mich neben sie. Sie hängt sich bei mir ein und drückt ihren Kopf gegen meinen Oberarm.

Die Szenerie wird beherrscht von einer brünetten Frau, die an eine mittelalterlich anmutende Konstruktion gefesselt ist. Ihr nackter Hintern ragt in die Luft und wird von einem Folterknecht gepeitscht.

Ein Dutzend Männer und Frauen stehen um sie herum, rauchen Zigaretten, nippen an Drinks und beobachten sie mit unterkühlten Minen. Sie ist der Superstar ihres eigenen Pornos. Jetzt, hier, in diesem einen Moment. Und dem nächsten. Und dem nächsten. Die Hiebe der Lederpeitsche landen pathetisch auf ihrem Hintern, als wäre es eine politische Demonstration.

»Kennst du sie?« frage ich Evelyn.

Sie schüttelt den Kopf, deutet mir aber an, sich etwas vorzubeugen, damit sie mir leichter ins Ohr schreien kann.

»Robert«, ruft sie. Ich erinnere mich an ihr Fotoalbum.

Aus den Lautsprechern dröhnt das vertraute »Being Boiled«, während von Roberts Stirn Schweißtropfen auf den Rücken des gefesselten Mädchens fallen.

Ich fühle mich wie ein Sterblicher unter Werwölfen. Nicht ganz so, wie ich mich fühle, wenn ich eine Bank betrete, doch ähnlich genug, um das hier nicht jeden Tag machen zu müssen.

Robert ist offensichtlich ein Dom mit Renommee. Er ist Mitte vierzig, etwas beleibt und recht maskulin. Gekleidet ist er mit einer schwarzen Lederhose und einem schwarzen Seidenhemd. Sein Kopf ist kahlgeschoren, wohl vor allem um über den nur noch spärlichen Haarkranz hinwegzutäuschen. Er trägt einen strengen Dreitagebart. Auf seinen Fingern stecken zahlreiche Stahlringe.

Ich stelle mir Evelyn und ihn vor. Wie er sie züchtigt und seinen Schwanz in sie reinsteckt. Eine zwanzig Jahre jüngere Sub in die Finger zu kriegen, muss ihm ziemlich gefallen haben. Wie es wohl wäre, ihm mit einem Vorschlaghammer mitten ins Gesicht zu schlagen?

Zwischen zwei Streichen entdeckt uns Robert in der Ecke des Raums und wirft Evelyn mit dem Charme eines tropischen Diktators ein Lächeln zu.

Ein perverser Teil von mir beginnt langsam Gefallen zu finden an dieser bühnenartigen Lebensart. So müssen sich vor drei Jahrhunderten Aristokraten gefühlt haben: auch nur Menschen, die urinierten und Kot ausschieden — und selten mehr als das zum Lauf der Dinge beitrugen — und doch trotzdem nie aus der Rolle fielen. Aufgesetztheit ist nur unerträglich, wenn sie ein einzelner in der Gruppe zur Schau trägt. Wenn alle aufgesetzt sind, wird das zur Avantgarde und später zum Trend.

»Ich tanze lieber in der Öffentlichkeit. Den Arsch versohlen lasse ich mir nur noch privat«, raunt mir Evelyn zu und zieht gelangweilt an ihrer Zigarette.

Unauffällig, mit beiläufiger Miene, machen wir uns aus dem Staub und kehren in den großen Saal zurück, wo inzwischen ein beachtlicher Tumult auf der Tanzfläche entstanden ist. Vorbei an all den hüpfenden Leder-Krähen und wandelnden Dildos bahnen wir uns unseren Weg zur Bar.

Wir bestellen noch eine Runde Getränke.

»Lange halte ich es hier nicht mehr aus«, meint Evelyn. Ich rätsele, ob die Begegnung mit Robert irgendeine Wirkung auf sie hat. Aber sie mutet nicht melancholischer an als sonst.

Vorbeigehende Leute schütteln Evelyns Hand oder küssen sie auf die Wangen. Wenn sie mehr Sinn für diese Dinge hätte, könnte sie einen ganzen Hofstaat haben, der sie auf den Händen durch die Stadt trüge. Doch statt dessen lächelt sie nur freundlich und lässt sich auf keine langen Konversationen ein. Das ist hier ohnehin schwer. Einige Dezibel weniger würden uns vermutlich nicht minder taub machen.

Plötzlich taucht Robert auf. Seine »Performance« ist anscheinend zu Ende, der Schweiß abgetrocknet. Er küsst Evelyn eine Sekunde zu lang auf die Lippen und wendet sich mir zu. Bevor er mir die Hand schüttelt, ohrfeigt mich sein Parfum. Ich kann nicht fassen, dass er sich in dieser Montur in eine Wolke aus Joop eingehüllt hat.

Wir plaudern ein wenig. Hier kommt es vielmehr einem Kreischen gleich. Robert erzählt über sich. Vermutlich sein Lieblingsthema. Gut, dass ich nur die Hälfte verstehe. Er besitzt ein eigenes Mietshaus in Winterhude, das er untervermietet. Und da er dadurch sehr viel Geld verdient, ohne dafür viel tun zu müssen, widmet er sich lieber der Kunst: Er stellt Schmuck aus Stahl her. Es gibt kein SM-Klischee, das an Robert abprallt.

Als sein Drink kommt, verabschiedet er sich wieder. Doch dann dreht er sich noch einmal um, und sein gönnerhafter Blick ist verschwunden. Er tritt an Evelyn heran. Sie sitzt zu nahe an mir, als dass ich ihn überhören könnte.

»Können wir nicht einfach reden?« ruft er und hält sich dabei die Hand an den Mund, um besser verstanden zu werden. »Kann ich dich anrufen?«

Evelyn wirkt genervt, doch sie nickt introvertiert.

Dann ist er in der Menge verschwunden. Die Masken und Figurinen um uns grooven inzwischen zu den donnernden Klängen von Frankie Goes To Hollywood auf der Tanzfläche. Keine Party ohne »Relax«.

»Was meint er denn?«

Sie schüttelt den Kopf. »Das ist eine alberne Geschichte.«

»Sprich mit mir«, rufe ich ihr zu.

Sie sieht mich an, rutscht von dem Barhocker, packt mich am Ellbogen und zerrt mich in den wesentlich leiseren Eingangstrakt. Dort bleiben wir stehen.

»Ich habe mit Robert sieben oder acht Sitzungen gemacht«, erklärte sie. »Beim letzten Mal ist er zu weit gegangen. Da habe ich gesagt: Das war´s. Nie wieder.«

Ich überreiche der Garderobiere unsere Nummernzettel und verhelfe Evelyn in ihren langen Mantel.

»Was ist denn passiert?« frage ich sie. »Was heißt zu weit gegangen?«

Wir spazieren langsam zum Ausgang. Vorbei an dem gelangweilten Türsteher und hinaus in die nächtliche Kühle.