Richard Wilhelm
Richard Wilhelm (* 10. Mai 1873 in Stuttgart; † 2. März 1930 in Tübingen) war ein deutscher evangelischer Theologe, Missionar und Sinologe. Seine Übertragungen und Kommentare zu klassischen chinesischen Texten – insbesondere des I Ging – fanden weite Verbreitung.Wilhelms Übersetzungen der chinesischen Klassiker hatten in seiner Zeit bei einem Publikum, das zu den Erfahrungen und Folgen des Ersten Weltkriegs eine kulturelle Alternative im Fernen Osten suchte, eine breite Wirkung. Dies erkläre sich damit, dass er die chinesische Tradition durch die Verbindung mit christlichen Sprachbildern innerhalb einer christlich bestimmten Kultur nachvollziehbar gemacht habe.
Wäre Wilhelm ein Chinese gewesen, so würde man ihn in den Konfuziustempel aufnehmen, äußerte der chinesische Philosoph Carsun Chang 1930 in seinem Nachruf auf Wilhelm. Er verlieh ihm gemäß dem chinesischen Brauch, Verstorbene, die für die Nachwelt wichtiges geleistet haben, durch besondere Namen zu ehren, den Ehrentitel "Weltbürger unseres Zeitalters". Paul Pelliot, ein französischer Sinologe, würdigte zur gleichen Zeit die Übersetzungsarbeit Wilhelms als Bereicherung für die deutsche Sinologie. Die Übersetzungen seien korrekt, in ausgezeichnetem Deutsch geschrieben und in jedem Fall sehr klar, soweit er es als Franzose beurteilen könne.
In der Zeit der Weimarer Republik waren Wilhelms Forschungsergebnisse unter vielen deutschen Sinologen umstritten. Fachwissenschaftler beanstandeten, dass Wilhelms Texte unwissenschaftlich seien, weil philologische Untersuchungen fehlten, berichtete 1930 der Sinologe Wilhelm Schüler in der sinologischen Fachzeitschrift Sinica über Kommentare von Kollegen. Es wurde auch beanstandet, dass sie keine eingehende Text- und Wortkritik enthielten. Außerdem, wurde aus wissenschaftlicher Sicht behauptet, verfärbten seine mit westlichen Gedanken und Begriffen durchsetzten Darstellungen den chinesischen Sinn und Ausdruck.
Eine weitergehende Kritik ganz grundsätzlicher Art veröffentlichte 1926 der Sinologe Alfred Forke. In einer Rezension schrieb Forke: Wilhelm habe „Den kritischen Blick ...wenn er ihn überhaupt je besessen hat, durch sein Aufgehen im Chinesentum verloren.“ Als schwerwiegenderes „Vergehen“ wurde Wilhelms Bemühung um eine „positive Neubewertung Chinas“ mittels wissenschaftlicher Analysen und Übersetzungen gewertet. Aufgrund seines intensiven Werbens für ein positives Chinaverständnis wurde Wilhelm der Vorwurf gemacht, er sei ‚fast chinesiert'. Die Sinologin Leutner macht darauf aufmerksam, dass dieser Vorwurf zugleich impliziere, dass Wilhelm illoyal sei und eine Beschäftigung mit China als Deutscher und aus deutscher Perspektive aufgegeben habe. Die ‚deutsche Identität’ bedeutete in der Weimarer Nachkriegsphase nicht, Pazifist oder Republikaner zu sein, was Forke seinem Kollegen Wilhelm vorgeworfen hatte.
Heute werden die Arbeiten Wilhelms anders gesehen. Der Historiker und Chinaforscher Horst Gründer zählt Wilhelms Arbeiten zum Fundament östlicher Philosophie und Bildung im deutschsprachigen Raum. Für die Sinologin Dagmar Lorenz war Wilhelm der Vertreter einer protestantischen Tradition, in der gründliches Nachdenken und die vorurteilsfreie Einstellung zu Kulturfremdem gepflegt wurde. Dies befähigte ihn, China mit anderen Augen zu sehen als viele seiner Landsleute. Es sei einfach positiv, so stellt der Berliner Ostasienwissenschaftler Henning Klöter fest, dass Wilhelms Übersetzungen den deutschsprachige Lesern chinesische Literatur habe „nachhaltig“ nahe bringen können.
Aus kulturwissenschaftlicher Sicht wurde in den 1970er Jahren – basierend auf den Auflagenzahlen des Diederichs-Verlages – festgestellt, dass Wilhelms Versionen der chinesischen Philosophie allgemein beliebt sind, obwohl die moderne Sinologie die Übertragungen Richard Wilhelms als veraltet betrachtet. Einen anderen Aspekt, der die Beliebtheit der Versionen Wilhelms eventuell begründen kann, wird aus psychologischer Sicht erwähnt: Wilhelm habe eine ausgeprägte Empfindsamkeit für den Übersetzungsprozess entwickelt. Diese Methode sei einzigartig und ihrer Zeit weit voraus. Sie ermögliche einen gleichberechtigten Dialog zwischen den Kulturen.
Quelle: Wikipedia
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