Wilkie Collins’ John Jagos Geist (Originaltitel: The Dead Alive) ist eine jener feinen, unterschätzten Erzählungen des viktorianischen Meisters, die auf wenigen Seiten das ganze Panorama menschlicher Schuld, Angst und Selbsttäuschung entfalten. Der Stoff beruht auf einem wahren amerikanischen Justizfall – dem der Boorn-Brüder – und zeigt Collins’ besonderes Gespür für die Verbindung von Kriminalgeschichte und seelischer Abgründigkeit.
Im Mittelpunkt steht der rätselhafte John Jago, ein junger Mann, dessen Verschwinden ein ganzes Dorf in Aufruhr versetzt. Verdacht, Aberglaube und Rachsucht mischen sich zu einem Geflecht aus Angst und Moralpanik, das die Grenze zwischen Leben und Tod, Wahrheit und Täuschung verwischt. Der angebliche „Geist“ Jagos ist weniger übernatürliche Erscheinung als Symbol der Gewissensqual, die über den Schuldigen – und den vermeintlich Unschuldigen – gleichermaßen lastet.
Collins gelingt es, mit knapper, klarer Sprache eine bedrückende Atmosphäre aufzubauen. Er verzichtet auf übermäßige Effekte und konzentriert sich auf das psychologische Moment – die beklemmende Stille der Verdächtigen, das Flackern der Gerüchte, den Punkt, an dem Wahrheit zur Legende wird. Gerade in dieser Reduktion liegt die Kraft der Erzählung. John Jagos Geist ist kein großer Gesellschaftsroman wie Die Frau in Weiß oder Der Mondstein, sondern eine meisterlich komponierte Miniatur: spannend, moralisch vielschichtig, still unheimlich. Sie erinnert daran, dass Collins nicht nur der Erfinder des modernen Detektivromans war, sondern auch ein feinsinniger Beobachter des menschlichen Gewissens.
Illustriert
Berlin, 1875
Übersetzer: Verlag von Otto Janke
Editor: Hans-Jürgen Horn |