„Ein Kuss kann süßer sein als Blut – und tödlicher.“

Sheridan Le Fanus Carmilla (1872) gilt als eine der frühesten und faszinierendsten Vampirerzählungen der Literaturgeschichte – und als die weibliche Schwester von Bram Stokers Dracula. Die Handlung spielt in der Steiermark, wo die junge Laura mit ihrem Vater in einem abgeschiedenen Schloss lebt. Ein Kutschenunfall bringt die geheimnisvolle Carmilla ins Haus – eine zarte, schöne Fremde mit seltsam vertrautem Blick. Zwischen den beiden jungen Frauen entspinnt sich ein intensives, zunehmend unheimliches Verhältnis.

Le Fanu inszeniert das Grauen leise, fast musikalisch. Es sind nicht Blut oder Schreie, die erschrecken, sondern das stetige Gefühl einer unsichtbaren Bedrohung: der Schatten im Zimmer, das fremde Flüstern, die Müdigkeit, die Laura langsam befällt. Carmilla ist ein Meisterwerk des Andeutens – eine Geschichte, die mehr verschweigt als ausspricht.

Literarisch bedeutsam ist ihr Unterton: weibliches Begehren, homoerotische Spannung, der Zusammenbruch viktorianischer Moral. Carmilla verführt, liebt und tötet – und bleibt dabei immer mehr Symbol als Figur. Sie ist Spiegel und Gegenteil zugleich: das unterdrückte Selbst, das sich im Dunkeln regt.

Noch bevor Dracula das Licht der Welt erblickte, hatte Le Fanu mit Carmilla die Grundlage für den modernen Vampirmythos gelegt. Bis heute strahlt die Novelle eine kühle, poetische Schönheit aus, in der Sinnlichkeit und Tod, Sehnsucht und Schrecken untrennbar verwoben sind.