Die Sagen des klassischen Altertums. Band I von Gustav Schwab ist der Auftakt zu einem ambitionierten Projekt: dem poetischen Verklingen der antiken Mythenschätze in verständlichem Deutsch. In der Erstfassung 1838 erschienen, hat Schwab mit diesem ersten Band den Grundstein gelegt für das, was später zum Kanon deutschsprachiger Mythennach-Erzählungen wurde.
Der erste Band versammelt die sogenannten „älteren Sagen“: Prometheus als Schöpfer und Rebell, die Menschenalter und das grausame Schicksal von Deukalion und Pyrrha, die Verwandlungsschicksale um Io, der jähe Absturz des Phaeton, das Entführen und Wiederfinden Europas, die Abenteuer des Perseus, die Klugheit des Kadmos, die dunkle Tragödie des Pentheus und das kühne Entkommen von Dädalos und Ikaros – um nur einige zu nennen.
Schwabs Stil zeichnet sich durch Klarheit und wohltuende Schlichtheit aus: Er verzichtet weitgehend auf pathetische Ausschmückungen und legt stattdessen Wert auf eine „einfache“ Prosa, die dennoch den Geist und die Schönheit der alten Überlieferung nicht verliert. Seine Nacherzählungen sind näher an den uralten Quellen orientiert, aber zugleich entschlackt – manche harschen Elemente mildert er – und so bietet er dem modernen Leser eine sanfte Brücke zur Mythologie.
Als Entwicklungsroman der Mythologie präsentiert Band I nicht bloß Einzelgeschichten, sondern ein orchestriertes Panorama: Die Götter und Helden bilden ein verbindendes Geflecht von Ursache und Wirkung, Ordnungsbruch und Wiederherstellung. Die Geschichten entfalten sich nicht als isolierte Episoden, sondern als Wellen im großen Mythos-Meer – was Schwabs Werk weit über eine einfache Märchensammlung hinaushebt.
Kritisch betrachtet muss man anerkennen, dass Schwabs „Vereinfachung“ auch Komplexität opfert: Unterschiedliche Überlieferungsvarianten geraten manchmal zugunsten eines flüssigen Erzählflusses verloren. Fachphilologen warfen ihm eine gewisse Urteilslosigkeit bei der Auswahl und Bearbeitung vor. Doch dies schmälert kaum die Legitimationskraft des Bandes für ein breites Publikum: Viele, die keine Griechisch- oder Lateinkenntnisse besitzen, finden hier ihren ersten und oft bleibenden Zugang zur antiken Welt.
In seiner literarischen Wirkung hat dieser Band Generationen beeinflusst: Autoren, Leser und Laien der Klassik-Rezeption spüren noch heute in Schwabs Prosa den Nachhall antiker Erzählkraft. Ein Band, der Mythos lebendig macht – sanft, klar, unverzichtbar. |