Robert Louis Stevensons Entführt oder Die Abenteuer des David Balfour (Originaltitel Kidnapped, 1886) ist einer jener Romane, in denen Abenteuer und Geschichte untrennbar ineinander greifen. Auf den ersten Blick eine klassische Jugendgeschichte über Mut, Verrat und Freundschaft, entpuppt sich das Werk bei genauerem Hinsehen als feinsinniges Porträt des schottischen Freiheitskampfes und als moralischer Reifungsroman eines jungen Mannes auf der Suche nach seiner Identität.
David Balfour, ein sechzehnjähriger Waise, wird von seinem habgierigen Onkel hintergangen, entführt und auf ein Schiff verschleppt, das ihn nach Amerika bringen soll. Doch das Schicksal – und eine stürmische See – führen ihn mit Alan Breck Stewart zusammen, einem charismatischen Jakobiten und gesuchten Rebell. Aus der anfänglichen Zweckgemeinschaft wird eine ungleiche Freundschaft zwischen zwei Welten: Vernunft und Leidenschaft, Gesetz und Freiheit, englische Ordnung und schottische Unabhängigkeit. Gemeinsam fliehen sie quer durch die rauen Highlands – durch ein Land, das selbst zum Symbol des Widerstands wird.
Stevenson verbindet in „Entführt“ historische Realität – den Mord an Colin Campbell von Glenure und die Jakobitenaufstände – mit erzählerischer Wucht. Seine Landschaftsbeschreibungen sind von solcher Intensität, dass man den Wind, den Regen, das Moos der Hügel zu spüren meint. Dabei ist der Roman nie bloß Kulisse, sondern moralische Prüfung: David muss lernen, Verantwortung zu übernehmen und sich selbst zu behaupten – ein klassisches Motiv des Bildungsromans im Gewand eines Abenteuerthrillers.
Trotz mancher gemächlicher Passagen bleibt Entführt eines der atmosphärisch dichtesten Werke Stevensons: eine Ode an Schottland, an Freundschaft und an den Mut, den eigenen Weg zu finden. |