»Es muß zugegeben werden, daß ›Mit den Augen des Westens‹ allein schon durch den Ablauf der Ereignisse ein historischer Roman geworden ist; er befaßt sich mit Vergangenem.« So beginnt die ›Vorbemerkung des Autors‹, 1920 geschrieben, zehn Jahre nach Vollendung des Werkes - die Revolution, deren Wetterleuchten sich in ihm spiegelt, war unterdessen Wirklichkeit geworden, die zaristische Herrschaft, deren Düsterkeit es schildert, vernichtet, der Bolschewismus,dessen Wesen Conrad ebenso fremd, ebenso russisch schien, ihr Nachfolger. Doch der »Ablauf der Ereignisse« vermochte nicht die Substanz des Buches, die Gültigkeit der Darstellung und mancher Erkenntnisse anzugreifen. ›Mit den Augen des Westens‹ bleibt ein ›politischer‹ Roman: der dritte der großen politischen Romane des Dichters.
Wie ›Nostromo‹ und ›Der Geheimagent‹ handelt er von der Fragwürdigkeit und Vergeblichkeit politischen Tuns, von Umtrieben und Machenschaften, von der immer wirkenden Verführung durch die Macht, den Verstrickungen dunkler Existenzen und verblendeter Idealisten, der sinnlosen Furchtbarkeit der Gewalt; sie verdirbt alle: die sie üben und die unter ihr leiden. So sieht Conrad zumal russisches Schicksal, russische Art - mit den Augen des Westens. Der polnische Patriot, der Engländer geworden war, hat sich leidenschaftlich zum Westen bekannt und den Antagonismus von Ost und West für ein Grundprinzip unserer Welt gehalten. »In der Politik der Winde findet wie bei den Völkerschaften der Erde der eigentliche Kampf zwischen Ost und West statt«, heißt es im ›Spiegel der See‹. Leidenschaftlich hat sich Conrad aber auch gegen den Vorwurf verwahrt, Vorurteil und Haß hätten diesen Roman gefärbt. In keinem seiner Werke ist er mehr als in diesem um psychologische und soziologische Motivierung, um Verstehen bemüht.
Rasumow, der unglückliche Held dieser zum Teil auf historischen Vorkommnissen fußenden Geschichte, der nichts als Russe ist, muß selber zum Verstehenden werden; darauf weist bereits die Bedeutung seines Namens im Russischen und im Polnischen. »Ein gewöhnlicher junger Mensch«, der, unehelicher Sohn eines Fürsten, ohne jede menschliche Bindung, nur auf sein Studium, seine Karriere bedacht ist. Der Fanatiker Haldin, der einen Minister ermordet hat, macht ihn in naivem Vertrauen zum Mitwisser, beansprucht seine Hilfe und besiegelt damit beider Geschick. Rasumow, besorgt um die Ordnung des öffentlichen und des eigenen Lebens, verrät ihn und ist nun selbst aus aller Ordnung geworfen. Er wird im Dienst der Gegenspionage nach Genf geschickt und dort von den Verschwörern im Exil als einer der ihren angesehen. Im Innersten erschüttert von der Begegnung mit Natalic Haldin, der Schwester des Verratenen, die an die Frieden und Versöhnung stiftende Kraft der Revolution glaubt, offenbart er sich ihr und den Verschwörern, erduldet er grausame Rache, erlangt er Sühne.
Schuld und Sühne: ›Mit den Augen des Westens‹ ist Conrads verschlüsselte Antwort auf Dostojewskijauch auf Tolstoj. Abermals variiert er sein eigentlichstes Thema: das der Treue. Und auch hier zeigt der »Tragiker des Westens« die Menschen im Bann der Täuschung und auswegloser Isoliertheit - seltsame Charaktere, pittoreske Figuren, Prototypen, bewegt in dichter Atmosphäre und hoher Spannung. |