Ein gestohlener Edelstein, ein rätselhaftes Schweigen – und der Ursprung des modernen Kriminalromans.
Wilkie Collins’ Der Mondstein (The Moonstone, 1868) gilt als der erste große Detektivroman der Weltliteratur. Mit unvergleichlicher Raffinesse verknüpft Collins Elemente des Mysteriösen, Sozialen und Psychologischen zu einem facettenreichen Kaleidoskop der viktorianischen Gesellschaft. Der berühmte Edelstein, einst aus einem indischen Tempel geraubt, erscheint als Sinnbild kolonialer Schuld – ein Fluch, der über Generationen weiterwirkt.
Als der Stein aus dem Haus der jungen Rachel Verinder verschwindet, entspinnt sich ein Netz aus Verdacht, Täuschung und innerer Zerrissenheit. Der skeptische Hausverwalter Betteredge, die fromme Drusilla Clack, der zwiespältige Franklin Blake – sie alle erzählen ihre Version der Wahrheit. Diese polyphone Struktur macht Der Mondstein zu einem literarischen Mosaik: Wahrheit wird hier nicht entdeckt, sondern rekonstruiert – und bleibt stets brüchig.
Collins verbindet Spannung mit Gesellschaftskritik: die starre Moral der Zeit, die Klassenunterschiede, die Unterdrückung der Frauen und der koloniale Blick auf das „Fremde“. Gleichzeitig entwirft er die Blaupause des modernen Detektivromans – mit Spuren, Irrwegen, falschen Verdächtigen und einem brillanten Ermittler, der seiner Zeit voraus ist. Der Mondstein bleibt ein leuchtender Meilenstein zwischen Sensationsroman und Psychothriller – ein Klassiker, der die Schatten der Wahrheit ebenso beleuchtet wie die Abgründe des menschlichen Gewissens.
Überarbeitete Version Jänner 2021 - Korrekturen und Illustrationen hinzugefügt.
Erstversion Jänner 2020
Übersetzer: Dr. E. Lehmann, 1869
Editor: Hans-Jürgen Horn |