Die „Vita sancti Martini“ ist weit mehr als eine klassische Heiligenlegende: Sulpicius Severus verbindet in präziser, dabei doch lebendiger Lateinsprache die asketische Lebensgestaltung des Bischofs Martin von Tours mit einem idealen Christianus-Modell spätantiker Prägung. Bereits in der Einleitung kündigt der Autor an, weniger an ebenmäßige Prosa zu denken, sondern an die Wahrheit großartiger Taten und Tugenden: „res potius quam verba perpendant“. (vgl. Sulpicius Severus)
Zentral steht die Mantelteilung: Martin teilt seinen Soldatenmantel mit einem frierenden Bettler – ein Bild der radikal-konsequenten Nächstenliebe, das sich ins Gedächtnis christlich geprägter Gesellschaften eingeprägt hat. Zugleich wendet sich Sulpicius gegen das prunkhafte Weltleben und stellt Askese, Demut und Dienst als Schlüssel christlicher Existenz heraus.
Gleichwohl ist die Vita kein nüchternes Zeugnis, sondern ein Werk, das Wundergeschichten und Visionen nahtlos in das Leben des Heiligen einbindet – damit typischer Vertreter frühmittelalterlicher Hagiographie. Kritisch betrachtet heißt das: Die historische Quellenlage wird zugunsten der Vorbildfunktion zurückgestellt. So spricht Sulpicius von „fidem dictis adhibeant, neque me quicquam nisi compertum et probatum scripsisse arbitrentur“ – doch gleich danach lässt er Raum für das Wundersame.
Für moderne Leser eröffnet sich folgender Wert: Die Vita zeigt, wie Christentum im 4. Jahrhundert soziale, spirituelle und moralische Leitbilder gestaltete – nicht primär als Institution, sondern als radikale Lebensentscheidung. Gleichzeitig ist das Werk stilistisch bemerkenswert: Es nimmt Anleihen bei klassischer Prosa-Tradition und will so heilige Biografie und literarisches Niveau verbinden.
Doch gerade darin liegt die Spannung: Für unsere historisch-kritische Perspektive muss man Vielfaches als literarische Konstruktion erkennen – die Vita ist also zugleich Quelle und Konzept. Wer sie liest als Spiegel einer asketischen Idealwelt, gewinnt Einsicht; wer historische Genauigkeit erwartet, wird auf Grenzen stoßen.
Fazit: Die Vita sancti Martini reizt als literarisches, spirituelles und kulturgeschichtliches Dokument. Sie bietet Einblick in asketisches Christentum, Heiligenkult und spätantike Gesellschaft. Zugleich mahnt sie zur kritischen Lektüre: Idealtyp und Wirklichkeit verweben sich.