Graf Leo Tolstoi zählt seit langem zu den bedeutendsten Schriftstellern Rußlands, aber nur sehr wenige seiner vielen Produkte sind über die Grenzen des Ursprungslandes hinaus bekannt geworden. Selbst in Frankreich, wo man doch sonst alles neue an russischer Literatur zuerst übersetzt und in ungezählten Auslagen zu verschlingen liebt, ist nur ein verhältnismäßig geringer Bruchteil der Tolstoischen Muse bekannt geworden. Eine Erklärung dafür liegt zunächst im Autor selbst, denn Tolstoi ist in gewissen Dingen ein Sonderling, der es nicht liebt, mit dem Auslande in Berührung zu treten, einer von den Russen, die das Heil ihres Landes aus sich selbst heraus erwarten und die Abgeschlossenheit desselben billigen, weil sie fürchten, daß der freie Einfluß des Anstandes ein für ihre Heimat schädlicher sein werde.
Tolstoi pflegt so wenig als möglich Verkehr mit außerrussischen Schriftstellern, und was von seinen Schriften im übrigen Europa bekannt wurde, ist zumeist durch irgend einen seiner Freunde vermittelt worden. Er selbst kümmert sich nicht darum, dabei darf man aber nicht glauben, daß Tolstoi ein Fanatiker sei. Vielmehr ist er ein Mensch, der die Sitten und Unsitten unserer Zeit scharf zu zeichnen vermag und der das Gute und Schöne liebt, das Schlechte aber aufrichtig bekämpft. Seine Romane, durch die er zunächst berühmt geworden, enthalten viele großartige, packende Schilderungen des Lebens und Treibens seiner Heimat. Man kann zumal den Charakter der Russen, der vornehmen wie der geringen, daraus erkennen lernen.
Tolstoi ist nicht verschwenderisch in Landschaftsmalereien und er liebt auch die vielen Worte bei Personenbeschreibungen und sonstigen Schilderungen nicht. Alles ist bei ihm kurz, klar, gemessen. Jedoch er ist ein tiefer Psychologe. Sein Verständnis der menschlichen Seele verräth sich überall, in seinen großen Romanen, seinen vielen kleinen Novellen und den winzigen Studien, die er in den letzten Jahren geschrieben: Wunderbar ergreifend ist z. B. der Untergang eines edlen, aber verführten Menschen, in den Mittheilungen »Aus dem Tagebuche eines Marqueurs« dargestellt. Wenige, scheinbar flüchtige, aber doch gründliche Striche geben das ganze Gewölbe, das voller Lebenswahrheit ist und den Menschen von Herz und Gemüt unfehlbar erschüttert.
Das Gleiche läßt sich von der kleinen Skizze sagen, die wir heute unseren Lesern vorführen. Sie führt uns in die russischen Eroberungen, zum Kaukasus, entrollt uns ein Bild des militärischen Lebens daselbst, gibt uns eine grausige Kampfesschilderung und alles das in wenigen Worten, kurzen Sätzen, die das, was dargelegt werden soll, schnell vor uns aufbauen. Hinter der nüchternen Wahrheit, mit der Tolstoi seine Feder hier handhabt, verleugnet sich dennoch nicht seine warme, herzliche Menschenliebe.
Leipzig, 1889
Übersetzer: Ewald Paul
Editor: Hans-Jürgen Horn |