Mit seinem Band „Abendstunden“ (Avondstonden, 1846, Bonn) öffnet Hendrik Conscience ein literarisches Fenster in das stille, nachdenkliche Herz des 19. Jahrhunderts. Hier gibt es keine Krieger und keine Heldenepen, sondern das Leben des einfachen Volkes – beleuchtet im warmen, stillen Licht der Dämmerung. Conscience, der „Erzähler der Flamen“, sammelt in diesem Werk moralische, humorvolle und rührende Geschichten, die wie Hausandachten wirken: Erzählungen, die man am Abend liest, wenn der Tag zur Ruhe kommt.
Der Band umfasst die folgenden Novellen und Erzählungen: Quintin Metsis – Das Leben eines Malers, der durch Liebe und Talent zu seiner wahren Berufung findet. Ricketicketack – Eine heitere Fabel über Zufall, Glück und menschliche Torheit. Gerhard. Der Sohn des Henkers – Eine erschütternde Geschichte über Schuld, Sühne und menschliche Würde. Die neue Niobe – Ein Gleichnis über Stolz und göttliche Strafe. Der Engel des Guten und der Geist des Bösen – Eine moralische Allegorie über Tugend und Versuchung. Wissensdurst und Glaube – Eine Parabel über die Grenzen menschlicher Erkenntnis. Der lange Nagel – Eine düstere Dorfgeschichte über Aberglaube, Handwerkerehre und Gewissensbisse. Die böse Hand – Eine volkstümliche Legende über Unheil, Sünde und Erlösung. Ein Schulmeister aus der Zeit Maria Theresias – Ein liebevolles Porträt eines Lehrers und seiner Bildungsideale. Striata formosissima oder das Dahlienfieber – Eine Satire auf Modewahn und Sammelleidenschaft. Der Geist. Ein Bild aus dem Volksleben – Eine Sittenzeichnung über Aberglaube und Angst in ländlicher Umgebung. Die Großmutter – Zwei kleine Kindererzählungen:
– Erzählung von Janneken und Mieken
– Erzählung von Knageleintje
Diese Sammlung ist ein Kaleidoskop menschlicher Gefühle: zwischen Glaube und Zweifel, Humor und Schmerz, Volkssage und Moralerzählung. Conscience wollte bilden, nicht blenden – seine Geschichten sind Fenster in die Seele des Volkes, Lehrstücke der Menschlichkeit, getragen von Wärme und Demut.
Heute lesen wir „Abendstunden“ nicht mehr als Lehrbuch der Moral, sondern als Dokument einer Epoche, die das Erzählen als Weg zum Verstehen nutzte. Es ist ein stilles Buch, aber von jener stillen Art, die in uns nachhallt – wie der Klang einer Abendglocke über den Dächern Flanderns.
Übersetzer: Joh. Wilh. Wolf
Editor: Hans-Jürgen Horn
|