In der Dämmerung zwischen Schlaf und Wachen beginnt das Unheil.
Wilkie Collins’ Erzählung „Die Traumfrau“ (engl. The Dream Woman, erstmals 1855 als The Ostler erschienen) zählt zu jenen düster-schillernden Kurzgeschichten, in denen der Meister des viktorianischen Sensationsromans das Unerklärliche tastend umkreist. Collins entfaltet eine psychologisch wie atmosphärisch dichte Geschichte über den Stallknecht Francis Raven, den eine unheimliche Frauengestalt in seinen Träumen heimsucht – mit einem Messer in der Hand. Als er ihr Jahre später tatsächlich begegnet, verschmelzen Traum und Wirklichkeit zu einem Albtraum ohne Erwachen.
Das Werk ist in vier Abschnitte unterteilt, erzählt aus verschiedenen Blickwinkeln – ein Kunstgriff, mit dem Collins das Spiel von Realität und Vorstellung noch verstärkt. Jede Stimme fügt ein neues Fragment hinzu, und doch bleibt das Rätsel ungelöst: Ist die Frau wirklich ein Gespenst, eine Projektion des schlechten Gewissens oder schlicht das Produkt eines zerrissenen Geistes?
Collins’ Stil ist klar und zugleich von bedrängender Symbolkraft. Die „Traumfrau“ verkörpert die dunkle Seite der Sehnsucht – das Verführerische, das zerstört, sobald es Besitz ergreift. In ihr spiegeln sich die Ängste des viktorianischen Zeitalters: die Furcht vor weiblicher Macht, vor der Auflösung rationaler Gewissheiten, vor dem eigenen Inneren.
Wer Collins nur durch seine großen Romane wie Die Frau in Weiß oder Der Mondstein kennt, entdeckt hier die Essenz seines Schreibens in konzentrierter Form: Spannung, Geheimnis und das Beben des Übernatürlichen. Die Traumfrau bleibt eine kleine, aber funkelnde Perle des viktorianischen Grauens – ein Spiegel, in dem das Unbewusste seinen kalten Atem spüren lässt.
Mit freundlicher Genehmigung von Daniel Stark.
Übersetzer: Daniel Stark
Editor: Hans-Jürgen Horn |