Wilkie Collins, der große Meister des viktorianischen Spannungsromans, entfaltet in Nicht aus noch ein (engl. No Name, 1862) eine Geschichte von Identität, Recht und sozialer Ohnmacht. Zwei Schwestern, Magdalen und Norah Vanstone, verlieren durch eine unerwartete Enthüllung nicht nur ihr Vermögen, sondern auch ihren gesellschaftlichen Stand. Der Titel ist Programm: Ohne Namen, ohne Rechte, ohne Schutz kämpfen sie in einer Welt, in der Herkunft alles bedeutet.
Collins gelingt hier ein ungewöhnlich moderner Roman – weniger Kriminalfall als gesellschaftliche Studie. Er verbindet Empörung über juristische Ungerechtigkeiten mit psychologischer Spannung und feiner Ironie. Vor allem Magdalen wird zur faszinierenden Figur: ein Frauencharakter voller Stolz, List und Leidenschaft, der alle Konventionen sprengt. Ihre Intrigen sind nicht nur Akte der Rache, sondern Ausdruck weiblicher Selbstbehauptung in einer männlich dominierten Ordnung.
Mit präzisem Stil und dramatischer Struktur zeigt Collins, wie dünn die Trennlinie zwischen Moral und Notwehr, Schuld und Opfer ist. Nicht aus noch ein ist damit weit mehr als ein viktorianischer Unterhaltungsroman – es ist eine kluge, mitreißende Studie über das Ringen um Würde und Identität in einer Gesellschaft, die Menschen auf Namen und Besitz reduziert.
Berlin, 1868
Übersetzer: Julie Hallervorden
Editor: Hans-Jürgen Horn |