Wilkie Collins, der Meister der Sensationsliteratur, beweist mit seiner kürzeren Erzählung Amors Pfeil, dass Spannung nicht zwingend epischer Breite bedarf. In dieser kleinen, konzentrierten Geschichte bündelt er jene Elemente, die seine großen Romane wie The Woman in White und The Moonstone so einzigartig machten: ein moralisches Dilemma, ein Hauch von Rätselhaftigkeit und eine stille Ironie gegenüber den gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit.
Der Titel deutet auf romantische Verstrickungen hin, doch im Kern geht es um weit mehr: um Ehre, Verantwortung und die feine Linie zwischen Gefühl und Pflicht. Collins spielt geschickt mit den Erwartungen seines Publikums. Der vermeintliche Liebespfeil wird zum Symbol einer Entscheidung, die das Herz prüft – und den Charakter offenlegt. Seine Figuren handeln nicht impulsiv, sondern unter dem Druck moralischer Selbstbefragung, wodurch das Werk in seiner Kürze erstaunliche Tiefe gewinnt.
Stilistisch bleibt Amors Pfeil klassisch britisch: klar, ökonomisch und von jener psychologischen Präzision, die Collins zu einem der Väter des modernen Kriminalromans macht. Der Text gleicht einer Miniatur, in der jedes Detail sitzt – kein Satz zu viel, kein Gefühl ohne Bedeutung.
So ist Amors Pfeil weniger ein Liebesdrama als ein Lehrstück über menschliche Wahrhaftigkeit. Collins trifft ins Herz – nicht mit Pathos, sondern mit der eleganten Genauigkeit eines Schriftstellers, der wusste, dass das wahre Ziel Amors nicht immer die Liebe, sondern die Erkenntnis ist.
Übersetzer: Daniel Stark, wilkiecollins.de
Editor: Hans-Jürgen Horn |