In Annedores Vormund eröffnet Hedwig Courths-Mahler einen Mikrokosmos von Gefühl, Pflicht und moralischem Ringen, in dessen Zentrum die junge Protagonistin Annedore steht. In der festen Umklammerung gesellschaftlicher Erwartungen und familiärer Bindungen sieht sie sich einem Vormund gegenüber, der nicht nur über ihr Schicksal mitbestimmt, sondern als Wächter über ihre Ehre und ihr Leben gilt.
Courths-Mahler gelingt es, mit klarer, unprätentiöser Sprache die inneren Konflikte ihrer Figuren auszuleuchten: Annedore schwankt zwischen Gehorsam und Selbstbehauptung, Liebe und Schuld, Vertrauen und Enttäuschung. Die äußere Kulisse – ein Hof, ein kleines Landstädtchen, die Gemeinschaft mit ihren Blicken und Urteilen – wirkt nicht als dekorativer Rahmen, sondern als Seismograph gesellschaftlicher Normen, die auf dem Rücken der Einzelnen lasten.
Der sogenannte „Vormund“ ist mehr als nur rechtlicher Vertreter: er symbolisiert die patriarchale Autorität einer Epoche, die Frauen noch als Objekte familiärer Fürsorge begreift. Doch Courths-Mahler lässt ihn nicht bloß als Feindbild agieren – sie zeichnet auch die Ambivalenz solcher Macht, die in Sorge, Kontrolle und Verantwortung verstrickt ist.
Der kurz gehaltene Roman (ursprünglich 1920 erschienen) besticht durch seine Eindringlichkeit und die Konzentration auf das Innere. Manche Stellen glätten über moderne Sensibilitäten hinweg Details, die heutiger Leserin Fragen aufwerfen (etwa im Umgang mit Recht und Geschlechterrollen). Dennoch bleibt Annedores Vormund ein berührendes Beispiel der späten wilhelminischen Zeitliteratur – kein strenges Lehrstück, sondern ein leises Drama, das Leserinnen und Leser einlädt, über Freiheit, Abhängigkeit und das Gewicht zwischenmenschlicher Verantwortung nachzudenken.
Leipzig / Bern, 1920
Editor: Hans-Jürgen Horn |