Wilkie Collins’ Das Eismeer (Originaltitel The Frozen Deep, 1856) ist ein Werk zwischen Bühnenstück und Novelle, das die eisige Arktis zum Spiegel menschlicher Leidenschaften macht. Inspiriert von wahren Polarexpeditionen und ursprünglich für die Bühne von Charles Dickens mitinszeniert, entfaltet sich eine dramatische Geschichte über Liebe, Eifersucht und moralische Läuterung.
Im Zentrum steht die junge Clara Burnham, die glaubt, über eine geheimnisvolle „zweite Sicht“ zu verfügen. Sie ist mit Frank Aldersley verlobt, der an einer gefährlichen Expedition ins Polarmeer teilnimmt. Unerwartet schließt sich auch Richard Wardour der Mission an – ein Mann, der einst Claras Liebe vergeblich suchte und nun von Rachsucht erfüllt ist. Als das Schiff in der endlosen Eiswüste strandet, geraten die Männer in existenzielle Grenzsituationen: Hunger, Kälte und der schmale Grat zwischen Hass und Vergebung verschmelzen zu einem dichten moralischen Drama.
Collins verbindet hier psychologische Spannung mit Naturgewalt. Das Eis steht als Symbol für innere Erstarrung und die Unausweichlichkeit des Schicksals. Clara, zwischen Schuld und Eingebung gefangen, wird zur Seherin einer Katastrophe, die ebenso seelisch wie physisch ist. In der kargen Umgebung der Arktis wird jedes Gefühl, jede Entscheidung vergrößert – bis zur Erlösung im Opfer.
Sprachlich ist Das Eismeer weniger ein typischer Sensationsroman als eine Studie des menschlichen Gewissens unter Extrembedingungen. Collins’ Interesse an Vision, Schuld und Sühne verbindet sich hier mit einer metaphysischen Dimension, die das Werk über die reine Abenteuergeschichte hinaushebt.
Ein viktorianisches Kammerspiel im Eis – still, bedrückend, und von jener moralischen Intensität, die Wilkie Collins zu einem Meister des inneren Dramas macht.
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Afrodite.
Text entnommen von wilkiecollins.de, Hans-Jürgen Horn.
Übersetzer: Afrodite, 2008
Editor: Afrodite, Hans-Jürgen Horn |