Der Wildfang von Hedwig Courths-Mahler entfaltet sich als zarte, aber kraftvolle Erzählung über die Rebellion einer jungen Seele gegen beengende Normen und über das Ringen um Freiheit und Liebe. Die ungekürzte Originalfassung erschien 1910 unter dem Pseudonym Hedwig Brandt und zählt zu Crourths-Mahler’s frühen Arbeiten.
Die Protagonistin Rose-Marie – oft „der Wildfang“ genannt – symbolisiert eine Natur, die sich nicht in die Form gießt. Schon in ihrem Alltag spürt sie die Zwänge der Gesellschaft, die Vorschriften für Anstand, Stellung und Pflichterfüllung diktiert. Hinter dem jugendlichen Widerwillen, mit dem sie sich gegen Einschränkungen stemmt, liegt ein sehnsüchtiges Herz: Rose-Marie strebt danach, sich selbst zu entdecken und zu behaupten, ohne ihre Sensibilität und ihren Mut zu verleugnen. Courths-Mahler porträtiert sie mit einer Mischung aus Sympathie und kritischem Blick, sodass ihre Trotzmomente nicht naiv, sondern nachvollziehbar wirken.
Stilistisch bewegt sich der Roman in der Tradition der bürgerlichen Liebesliteratur seiner Zeit, mit klaren, emotional ausgerichteten Beschreibungen, innerer Spannung und moralischer Reflexion. Doch hinter dieser Fassade ragen Themen hervor, die auch heute noch Nachhall finden: die Frage, wieviel Selbstbestimmung einer Frau zusteht, und welche Opfer das Streben nach Individualität mit sich bringt.
Kritisch betrachtet zeigt Der Wildfang seine Schwächen vor allem in seiner zeitbedingten Moralisierung: Der Konflikt zwischen Pflicht und Leidenschaft wird oft in schwarz-weiß gezeichnet, und die Lösungswege neigen dazu, sich an konventionelle Heilsangebote anzulehnen. Manche Figuren bleiben als bloße Typen stehen, weniger als innerlich gebrochene Seelen.
Doch gerade darin liegt auch sein Reiz: Das Buch trägt die Spuren eines Zeitalters, in dem man über Femininität und Unabhängigkeit ringen musste – und darum lässt sich Rose-Maries Kampf als literarische Erinnerung an diesen Aufbruch lesen. Für Leserinnen und Leser, die sich an klassisch-romantischen Erzählungen erfreuen und zugleich feine Zwischentöne schätzen, ist Der Wildfang eine lohnenswerte Lektüre.
Dresden, 1910
Übersetzer: Druck und Verlag von Rich. Hem. Diedrich
Editor: Hans-Jürgen Horn |