Ein seltsames Leben entführt den Leser in das unterschwellige, doppeldeutige Geflecht viktorianischer Wirklichkeit – ein Leben, das zugleich vertraut und fremd wirkt. Mit sicherem Gespür für Kontraste und Geheimnisse entfaltet Braddon eine atmosphärisch dichte Welt: Zwischen familiären Bindungen und gesellschaftlichen Erwartungen findet sich ein Leben, das auf seltsame Weise aus der Form gerät.
Die Autorin, bekannt als Meisterin des Sensationsromans, webt ein Netz aus emotionalen Bruchstellen und subtilen Andeutungen – statt offener Enthüllungen lässt sie das Verborgene im Schatten schweben. Die Figuren sind auf den ersten Blick gesellschaftlich eingeordnet, doch unter der Oberfläche regt sich etwas Unerwartetes, Ambivalentes. Braddons Sprache bleibt nüchtern, präzise – und gewinnt dennoch an Klang, wenn sie das Alltägliche ins Unheimliche kippen lässt.
Obwohl Ein seltsames Leben weniger dramatisiert daherkommt als etwa ihr berühmtes Lady Audley’s Secret, zeigt es doch Braddons unverkennbares Talent, das Gewöhnliche in ein gespenstisches Licht zu rücken. Ihre Themen – innerer Zwiespalt, moralische Verstrickung, das offene Geheimnis – stehen in frappierendem Kontrast zu den konventionellen Formen des Viktorianismus. Das Ergebnis ist ein Roman, der nicht schreit, aber nachhallt: leise, eigenwillig und unerwartet.
Eine Lektüre, die nicht mit Spannung lockt, sondern durch Sprachgewandtheit und Düsternis besticht – ein stilistisches Kleinod im Schatten glänzender Sensationsromantik, und doch ganz Braddon.
Diese Ausgabe wurde von Hans-Jürgen Horn sorgfältig editiert und Zulu-Ebooks dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. |