„Ratsmädelgeschichten“ von Helene Böhlau entwirft ein feinsinniges Porträt kleinstädtischer Kindheit und Jugend im Weimar des 19. Jahrhunderts. Im Zentrum stehen die beiden jungen Mädchen Röse und Marie – die „Ratsmädel“ –, die in einer von Tradition und bürgerlichem Anspruch geprägten Welt heranwachsen. In sieben Erzählungen schildert Böhlau ihre kleinen Abenteuer, Streiche, kindlichen Ängste und ersten Freundschaften – stets auf dem schmalen Grat zwischen Unbeschwertheit und erwachender Reflexion.
Der besondere Reiz dieses Buches liegt in der leisen Spannung zwischen dem Lebensalltag der Kinder und dem historischen Hintergrund: Kriegseinflüsse, gesellschaftliche Erwartungen und städtisches Gefüge wirken im Schatten mit. Böhlau gelingt es, eine lebendige Atmosphäre zu schaffen: Der Duft der Gassen, die Stimmen der Nachbarn, das heimliche Verschwinden auf Felderwegen – all das wirkt zugleich konkret und symbolisch.
Stilistisch zeichnet sich das Werk durch eine klare, zurückgenommene Sprache aus, die ohne Pathos auskommt. Helene Böhlau nähert sich ihren Figuren mit Empathie und psychologischer Genauigkeit – sie zeichnet keine idealisierte Kindwelt, sondern eine, in der auch kleine Konflikte, Gewissensfragen und Unsicherheiten Platz haben.
Insgesamt ist Ratsmädelgeschichten weniger ein klassischer Kinderroman als ein literarisches Kaleidoskop des Heranwachsens, das mit zarter Hand unsere Erinnerung entfaltet. Wer Interesse hat an deutscher Literatur des 19. Jahrhunderts, an weiblichen Perspektiven und an fein gezeichneten Alltagswelten, findet hier eine lohnenswerte Lektüre. |