Wilkie Collins’ Erzählung Fräulein Morris und der Fremde (engl. Miss Morris and the Stranger) gehört zu jenen kleinen, aber feinen Kostbarkeiten, in denen der Meister des viktorianischen „Sensation Novel“ seine Kunst auf engem Raum entfaltet. Ein unscheinbares Zusammentreffen zwischen einer jungen Frau und einem Fremden in einer stillen englischen Stadt wird zum Spiel mit Andeutungen, Blicken und unausgesprochenen Gedanken.
Die Handlung bleibt schlicht, doch Collins nutzt sie als Bühne für das, was ihn als Erzähler auszeichnet: Spannung durch Sprache, Andeutung und Atmosphäre statt durch äußere Aktion. Der Fremde bleibt lange eine Projektionsfläche – höflich, geheimnisvoll, vielleicht gefährlich. Fräulein Morris begegnet ihm mit Witz und Skepsis, doch unter der Oberfläche schwingt ein unmerkliches Band von Anziehung und Gefahr.
Wie in vielen seiner kürzeren Werke verdichtet Collins die Elemente des Rätselhaften, des psychologisch Verborgenen und der gesellschaftlichen Masken. Das kleine Städtchen Sandwich mit seinen Gassen und seinem Dämmerlicht wird zum Spiegel innerer Unruhe – und zur Metapher jener Grenzbereiche, in denen sich Neugier, Angst und Begehren berühren.
Obwohl die Geschichte im Schatten seiner großen Romane wie Die Frau in Weiß oder Der Monddiamant steht, trägt sie deren Essenz: das Spiel mit Identität und Wahrnehmung, den Reiz des Unerklärlichen. In dieser Kürze liegt ihre Stärke – und der Reiz für heutige Leser, die Collins’ leise Kunst des Suspense entdecken wollen.
Otto–Hendel–Verlag, 1890
Übersetzer: Peter Butzer
Editor: Hans-Jürgen Horn, wilkiecollins.de |