In Fräulein oder Frau? (Originaltitel Miss or Mrs?, 1871) entfaltet Wilkie Collins auf knappem Raum ein klassisches Drama des viktorianischen Zeitalters: Heimliche Liebe, gesellschaftlicher Zwang und moralische Fassade prallen mit leiser, aber unerbittlicher Spannung aufeinander.
Die junge Natalie Graybrooke liebt ihren Vetter Launcelot Linzie, doch ihr Vater drängt sie in eine arrangierte Ehe mit dem wohlhabenden, aber undurchsichtigen Richard Turlington. Aus Angst vor dem Verlust ihrer Freiheit heiratet Natalie heimlich den Geliebten – ein Entschluss, der sie in eine gefährliche Lage bringt. Als Turlington das Geheimnis wittert und um sein Vermögen fürchtet, schlägt die Liebesgeschichte in ein psychologisches Kammerspiel aus Intrige, Erpressung und drohendem Verbrechen um.
Collins, Meister der „Sensation Novel“, verdichtet seine Themen zu einem moralischen Miniaturbild: Der Titel – Fräulein oder Frau? – wird zum Symbol für die prekäre Stellung der Frau zwischen Abhängigkeit und Selbstbestimmung. Der Autor entlarvt die doppelte Moral seiner Zeit: Während Männer über Recht und Besitz verfügen, muss eine Frau ihr eigenes Glück verbergen, um gesellschaftlich bestehen zu können. Die Sprache bleibt ruhig und elegant, doch unter der Oberfläche brodelt es – eine stille Anklage gegen patriarchale Strukturen und Heuchelei.
Obwohl die Erzählung nicht die epische Tiefe von Die Frau in Weiß oder Der Monddiamant erreicht, beeindruckt sie durch erzählerische Straffheit und thematische Klarheit. Collins zeigt, dass Spannung nicht in der Handlung, sondern im moralischen Dilemma liegt – und dass ein Geheimnis, einmal ausgesprochen, alles verändern kann.
Leipzig, 1872
Übersetzer: Dr. Emil Lehmann
Editor: Hans-Jürgen Horn, wilkiecollins.de |