In einer kühlen Sommersnacht trifft ein wandernder Schriftsteller auf eine alte Bäuerin, die in eindringlichen, nahezu stummen Zügen ihren Schmerz vorträgt. Aus ihrem Bericht entspinnt sich die tragische Geschichte von Kasperl, einem Unteroffizier, und seiner Verlobten Annerl – ein Drama, in dem Ehre, Schuld und Gnade aufeinanderprallen.
Kasperl, von unerschütterlichem Pflichtbewusstsein getrieben, bringt einen Verrat im familiären Umfeld ans Licht, nur um im Angesicht der entstehenden Schande den Freitod zu wählen. Annerl wiederum, im Zwiespalt zwischen gesellschaftlichem Druck und verzweifelter Liebe, wird beschuldigt, ihr uneheliches Kind ermordet zu haben – sie schweigt zu ihrem Verführer, verweigert jegliches Fürbitten und wartet auf die Vollstreckung ihres Urteils.
Brentano gestaltet die Novelle als Rahmenerzählung: ein Leser wird Zeuge, wie der Erzähler selbst beim Herzog um die Begnadigung bittet – vergeblich. Die Hinrichtung erfolgt, doch der Herzog ordnet zugleich ein ehrvolles Begräbnis an, das Kasperl und Annerl nebeneinander ruhen lassen soll. Am Grab verstirbt die Großmutter, und ein Monument wird errichtet, das Gnade, Ehre und Gerechtigkeit symbolisiert.
Thematisch überschattet die Novelle die Frage, inwieweit Ehre ein moralischer Zwang werden kann. In über hundert Erwähnungen – das Wort „Ehre“ ist ein Leitmotiv – verhandelt Brentano die konfliktreiche Rolle der gesellschaftlichen Erwartungen gegen individuelle Schuld und göttliche Gnade.
Als dichterisch dichter Stoff der Frühromantik verbindet „Kasperl und Annerl“ religiöse Substanz, psychologische Tragik und dramatische Symbolkraft. Der Text berührt durch seine nüchterne, fast parabelhafte Erzählweise und zeigt die Grenzen menschlicher Würde – und die Rettung, die nur durch Mitgefühl und Gnade möglich ist. |