Wilkie Collins’ Roman Verbergen und Suchen (Hide and Seek, 1854) gehört zu den frühen Beispielen jener „Sensation Novels“, die das viktorianische Publikum in ihren Bann zogen. Schon hier deutet sich Collins’ Gespür für Spannung, Geheimnis und moralische Abgründe an, die er später in Meisterwerken wie Die Frau in Weiß vollendet ausformte.
Die Geschichte entfaltet sich wie ein Mosaik: Mary Grice, vom Schicksal hart getroffen, stirbt nach einem unehelichen Verhältnis und hinterlässt eine Tochter. Dieses Kind, später „Madonna“ genannt, wächst zunächst bei Schaustellern auf und wird nach einem Unfall taubstumm. Ihr Weg kreuzt sich mit Matthew Grice, Marys Bruder, der nach Jahren aus der Ferne zurückkehrt und sich auf die Suche nach familiären Spuren begibt. Schritt für Schritt werden Geheimnisse enthüllt – über Herkunft, Schuld und die unsichtbaren Bande zwischen Menschen.
Collins verwebt geschickt gesellschaftliche Themen wie Moral, soziale Außenseiter und den Blick auf Behinderungen mit einer dramatischen Familiengeschichte. Besonders reizvoll ist die narrative Technik: Der Leser weiß oft mehr als die Figuren, wodurch eine unterschwellige Spannung entsteht, die an den modernen Kriminalroman erinnert.
Auch wenn der Roman noch nicht die stilistische Reife späterer Werke erreicht, besitzt er eine eigentümliche Kraft: ein Spiel zwischen Licht und Schatten, zwischen Verbergen und Enthüllen – das den Titel mehr als rechtfertigt.
Überarbeitete Version Jänner 2021 - Korrekturen und Illustrationen hinzugefügt.
Erstversion November 2019
Übersetzer: Sondershausen, Verlag von G. Neuse, 1864
Editor: Hans-Jürgen Horn |