Robert Musil – Kartograph des Seelenlabyrinths
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- Kategorie: Zulu Magazin
- Veröffentlicht: Donnerstag, 03. Dezember 2015

Schon sein Erstlingswerk Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) gilt als eine der Schlüsselschriften des frühen 20. Jahrhunderts: ein Bildungsroman, der die Psychologie jugendlicher Grenzerfahrungen mit analytischer Strenge beschreibt und dabei jene Mischung aus Rationalität und Abgrund spürbar macht, die Musils Schreiben prägt. Der junge Törleß steht an der Schwelle zwischen Vernunft und Irrationalität – eine Schwelle, die Musil nie aus den Augen verlieren sollte.
Sein Hauptwerk, das unvollendete Monumentalprojekt Der Mann ohne Eigenschaften, ist mehr als ein Roman: Es ist eine geistige Kartographie Europas am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Auf über zweitausend Seiten entfaltet Musil das Panorama einer Welt im Umbruch, einer Gesellschaft im „Kakanien“, dem sterbenden Habsburgerreich, in der alles zugleich festgefügt und brüchig erscheint. Ulrich, der „Mann ohne Eigenschaften“, wird zum Medium dieser Schwebe: er lebt in Möglichkeiten, nicht in Gewissheiten.
Doch Musils literarisches Schaffen ist weit mehr als dieser Gipfel. In seinen Novellenbänden Drei Frauen oder den Vereinigungen entwirft er Miniaturen der Liebe und ihrer Verhängnisse. Seine Stücke wie Die Schwärmer oder Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer zeigen eine ironische, ja bisweilen satirische Seite. Essays, Aphorismen, Kritiken und autobiographische Skizzen offenbaren den Autor als scharfzüngigen Diagnostiker seiner Zeit.
Das hier vorliegende, 2403 Seiten umfassende Gesamtwerk, zusammengetragen in einem monumentalen Sammelband, macht die Vielgestaltigkeit Musils greifbar. Von frühen Prosa-Fragmenten über essayistische Versuche bis hin zu den nachgelassenen Teilen des Mann ohne Eigenschaften wird das Bild eines Schriftstellers sichtbar, der kompromisslos dachte und schrieb.
Robert Musil war kein Autor für den schnellen Ruhm. Er war ein Suchender, dessen Texte sich jeder einfachen Lektüre verweigern. Seine Prosa ist präzise wie Mathematik, durchdrungen von psychologischer Feinfühligkeit und von einem unstillbaren Hunger nach Sinn. Wer Musil liest, tritt in einen Raum des Denkens ein, der das Flüchtige der Moderne bannt – und gerade darin zeitlos bleibt.
Ein Jahrhundertwerk deutscher Prosa, das uns heute, in einer neuen Epoche der Unsicherheiten, von frappierender Aktualität erscheint.
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