Ein verborgenes Zimmer, ein gestohlenes Leben – und das Echo einer Wahrheit, die nicht schweigen will.
Wilkie Collins’ Das Familiengeheimnis („The Dead Secret“, 1857) gehört zu den frühen Werken, in denen sich der spätere Meister der viktorianischen Sensationsliteratur bereits formt. Der Roman kreist um das Motiv der verborgenen Wahrheit, die – tief in den Mauern eines alten Hauses – das Schicksal aller Beteiligten bestimmt. Mit feinem Gespür für Spannung und Psychologie entfaltet Collins eine Geschichte, in der ein vergessenes Dokument, ein geheimer Raum und eine Dienerin zum Zentrum eines komplexen moralischen und emotionalen Netzes werden.
Wie in Die Frau in Weiß oder Der Mondstein experimentiert Collins hier mit der Idee, dass jedes Geheimnis eine doppelte Natur besitzt – es enthüllt ebenso wie es zerstört. Das Werk verbindet Elemente des Schauerromans mit dem realistischen Gesellschaftsbild der viktorianischen Zeit. Besonders bemerkenswert ist, wie Collins weibliche Figuren – oft Dienerinnen oder sozial Untergeordnete – zu Trägerinnen von Wahrheit und Schuld macht. Das Familiengeheimnis ist somit nicht nur eine Geschichte über Erbschaften und verborgene Identitäten, sondern ein früher Beitrag zur literarischen Emanzipation, in dem das Private unaufhaltsam politisch wird. Ein Werk, das die Schatten der Vergangenheit mit der Präzision eines Kriminalpsychologen beleuchtet – still, eindringlich und meisterhaft komponiert.
Übersetzer: Daniel Stark, wilkiecollins.de
Editor: Hans-Jürgen Horn |