„Das Gastmahl des Doktor Bertrand“ von Charles Collins entfaltet sich in einer Dämmerzone zwischen Gesellschaftsdrama und mysteriöser Allegorie. Bereits im Titel liegt eine feine Ironie: das festliche Mahl ist mehr als Nahrungsaufnahme — es wird zum Spiegel menschlicher Gelüste, Maskeraden und verborgener Abgründe. In einer Atmosphäre von gesitteter Höflichkeit und latenter Spannung skizziert Collins die Beziehungen zwischen Gastgebern und Gästen, zwischen Gästen und Abendessen, so dass das Mahl selbst fast zu einer Figur wird, die Machtverhältnisse aushandelt und seelische Spannungen offenlegt.
Der Stil ist elegant, mit feinem Gespür für Zwischentöne: Gespräche sind geladen mit Andeutungen, Blicke deuten das, was gesprochen nicht werden darf. Die Kulisse eines gediegenen Speisesaals – Silberbesteck, lodernde Kerzen, duftende Speisen – wirkt zugleich vertraut und unheimlich, wie ein Terrain, auf dem das Verhalten der Gäste nicht mehr ganz der Zivilisation entspricht. Collins lässt kleine Geste, Pausen, das Zögern beim Besteckgreifen – diese Minimalien werden zum literarischen Resonanzraum für Spannungen, Eifersucht, verborgene Wünsche, aber auch für gesellschaftliche Zwänge und Hierarchien.
Was uns besonders fasziniert: Collins gelingt es, scheinbar banales, höfisches Interagieren als Bühne existenzieller Fragen zu nutzen. Wer darf sprechen? Wer schweigt? Wer verbirgt unter der Etikette einen Groll? Der Gastmahl-Rahmen erlaubt gleichsam eine Kulisse städtischer Etikette und einer unterschwelligen Krise — so wird das Festessen zur Metapher für das Austarieren von Nähe und Distanz, von Höflichkeit und Rivalität.
Übersetzer: Kleines Roman-Magazin, 1867
Editor: Hans-Jürgen Horn |