„Wo die Vernunft endet, beginnt der Abgrund der Seele.“
Wilkie Collins’ Erzählung Der Wahnsinnige (engl. The Monktons of Wincot Abbey, 1855) ist ein frühes Beispiel für die psychologisch aufgeladene Spannungsliteratur des viktorianischen Zeitalters. Schon in dieser kurzen Geschichte zeigt sich Collins’ unverkennbares Gespür für das Unheimliche, für jene feinen Risse im menschlichen Geist, durch die Wahnsinn und Vernunft ineinanderfließen.
Im Mittelpunkt steht ein Mann, dessen Familiengeschichte von dunklen Vorzeichen überschattet ist: Er fürchtet, dass ein Fluch des Wahnsinns auf seinem Geschlecht lastet. Was beginnt wie ein moralisches Rätsel, wird zum psychologischen Kammerspiel über Angst, Schuld und Selbsttäuschung. Collins entwirft kein simples Schreckensbild, sondern eine doppelbödige Erzählung, in der sich die Grenze zwischen Erbkrankheit und selbst erfüllender Prophezeiung verwischt.
Stilistisch bleibt der Text konzentriert, fast asketisch. Collins verzichtet auf die dramatische Wucht seiner späteren Romane (The Woman in White, No Name), und doch kündigt sich hier bereits der Autor an, der das viktorianische Publikum mit „sensation novels“ fesseln sollte. Der Wahnsinnige ist eine Fallstudie über den menschlichen Verstand – überzogen mit jener feinen Ironie, die Collins’ Werk durchzieht.
In der Tradition des viktorianischen psychologischen Realismus verbindet Collins hier gesellschaftliche Moralvorstellungen mit dem Unfassbaren. Das Resultat ist ein beklemmendes, zugleich faszinierendes Stück Weltliteratur – eine Miniatur, in der sich das Thema des Wahnsinns mit präziser Beobachtung und leiser Tragik verbindet.
Übersetzer: L. du Bois, 1860
Editor: Hans-Jürgen Horn |