„Manchmal genügt ein einziger Augenblick der Schwäche, um ein ganzes Leben zu verändern.“

Wilkie Collins’ Roman Die neue Magdalena (The New Magdalen, 1873) ist eines jener Werke, in denen sich die viktorianische Gesellschaft im Spiegel ihrer eigenen Moral betrachtet – und erschrickt. Collins, der große Chronist weiblicher Schicksale, legt hier das Leben einer „gefallenen“ Frau unter das literarische Brennglas und fragt: Gibt es Vergebung in einer Welt, die lieber richtet als versteht?

Im Mittelpunkt steht Mercy Merrick, eine ehemalige Krankenschwester, die ihre dunkle Vergangenheit zu verbergen sucht. Als sie während des Krieges einer sterbenden Engländerin begegnet, nimmt sie deren Identität an – ein verzweifelter Versuch, ein neues Leben zu beginnen. Doch Collins inszeniert diesen Identitätswechsel nicht als Betrug, sondern als existenzielle Frage nach Schuld und Gnade. Mercy ist keine Sünderin, sondern eine Frau, die um Würde kämpft.

Das Werk vereint alle Elemente des Sensation Novel: Geheimnisse, Enthüllungen, gesellschaftliche Doppelmoral. Aber Collins bleibt mehr als ein Meister des Plots – er wird zum Psychologen seiner Figuren. Die Spannung entspringt weniger äußeren Ereignissen als dem moralischen Konflikt im Innern der Heldin.

Die neue Magdalena ist zugleich Sozialkritik und Plädoyer für Menschlichkeit. Collins prangert das Urteil der Gesellschaft an, die Frauen für immer brandmarkt, und stellt ihr die Möglichkeit echter Reue entgegen. Der Roman mag in manchen Szenen sentimental wirken, doch seine Botschaft bleibt aktuell: dass moralische Größe nicht im Makellosen, sondern im Mut zur Veränderung liegt.

Ein Werk, das berührt – und nachdenklich macht.

Überarbeitete Version Jänner 2021 - Korrekturen und Illustrationen hinzugefügt.
Erstversion Juni 2020
Wien, 1873
Übersetzer: A. Hartleben's Verlag
Editor: Hans-Jürgen Horn, wilkiecollins.de